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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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nachsehen, wenn du willst.»
    «Aber würden die jemanden wie mich nehmen? Jemanden ohne die notwendigen Voraussetzungen?»
    Sie warf ihren Stift hoch und fing ihn wieder auf. «Oh, sie lieben die Teilnehmer geradezu, die über den zweiten Bildungsweg kommen. Ganz besonders solche mit Arbeitserfahrung. Vielleicht müsstest du erst einmal einen Grundlagenkurs besuchen, aber das wäre ja wohl kein Problem. Warum? Was ist los?»
    «Ich weiß nicht. Es hat mit etwas zu tun, das Will mal zu mir gesagt hat. Über … darüber, dass ich etwas mit meinem Leben anfangen soll.»
    «Und?»
    «Und ich denke … vielleicht ist es Zeit, dass ich das mache, was du gemacht hast. Jetzt, wo Dad mit seinem eigenen Geld klarkommt, bist du vielleicht nicht mehr die Einzige, die imstande ist, etwas aus sich zu machen, oder?»
    «Du müsstest für die Ausbildung bezahlen.»
    «Ich weiß. Ich habe gespart.»
    «Ich vermute, es ist ein bisschen mehr, als du hast sparen können.»
    «Ich könnte mich um ein Stipendium bewerben. Oder vielleicht ein Darlehen aufnehmen. Und was ich habe, reicht, um eine Zeitlang durchzukommen. Ich habe da so eine Frau kennengelernt, die früher im Parlament war, und sie meinte, sie hätte Verbindung zu einem Verein, der mich unterstützen könnte. Sie hat mir ihre Visitenkarte gegeben.»
    «Moment mal», sagte Katrina und schwenkte auf ihrem Stuhl herum. «Das verstehe ich nicht ganz. Ich dachte, du möchtest bei Will bleiben. Ich dachte, es geht die ganze Zeit darum, dass du ihn am Leben halten und weiter bei ihm arbeiten willst.»
    «Das stimmt auch, aber …» Ich starrte an die Decke.
    «Aber was?»
    «Es ist kompliziert.»
    «Genau wie die quantitative Lockerung bei der Zentralbank. Aber dabei verstehe ich wenigstens noch, dass es eine Lizenz zum Gelddrucken ist.»
    Sie stand auf und machte die Schlafzimmertür zu. Dann senkte sie die Stimme, damit sie von draußen bestimmt nicht gehört werden konnte.
    «Glaubst du, dass du es nicht schaffst? Glaubst du, dass er sich …»
    «Nein», sagte ich hastig. «Wenigstens hoffe ich das. Ich habe Pläne. Große Pläne. Ich erzähle dir bald davon.»
    «Aber …»
    Ich streckte die Arme über den Kopf und verschränkte die Finger. «Aber ich mag Will. Sehr.»
    Sie betrachtete mich genau. Sie hatte ihr Denkgesicht. Es gibt nichts Furchterregenderes als das Denkgesicht meiner Schwester, wenn sie einen damit direkt ansieht.
    «Mist.»
    «Bitte sag nichts …»
    «Das ist ja mal interessant», sagte sie.
    «Ich weiß.» Ich ließ meine Arme fallen.
    «Du willst eine Arbeit. Sodass du …»
    «Das habe ich von den anderen Tetraplegikern. Mit denen ich in Internetforen rede. Man kann nicht beides machen. Man kann keine Pflegekraft sein und …» Ich hob die Hände, um mein Gesicht dahinter zu verstecken.
    Ich spürte ihren Blick auf mir.
    «Weiß er es?»
    «Nein. Ich bin mir ja nicht mal selber sicher. Es ist einfach …» Ich warf mich bäuchlings aufs Bett. Es roch nach Thomas. «Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nur, dass ich die meiste Zeit lieber mit ihm zusammen bin als mit irgendwem sonst.»
    «Einschließlich Patrick.»
    Und da war sie, stand im Raum – die Wahrheit, die ich mir kaum selbst eingestehen konnte.
    Ich spürte, wie ich rot wurde. «Ja», sagte ich in die Tagesdecke hinein. «Manchmal schon.»
    «Verdammt», sagte sie nach einer Weile. «Und ich habe immer gedacht, ich wäre diejenige, die sich das Leben kompliziert macht.»
    Sie legte sich neben mich, und wir starrten an die Decke. Unten konnten wir Großvater unmelodisch vor sich hin pfeifen hören, begleitet von dem Kreischen und Rumsen, mit dem Thomas ein ferngesteuertes Auto rückwärts und vorwärts an eine Fußleiste knallen ließ. Aus irgendeinem Grund füllten sich meine Augen mit Tränen. Nach einer Minute spürte ich, wie sich der Arm meiner Schwester um mich schob.
    «Du verdammte Irre», sagte sie, und wir mussten beide lachen.
    «Keine Sorge», sagte ich und wischte mir übers Gesicht. «Ich werde keine Dummheiten machen.»
    «Sehr gut. Je länger ich nämlich darüber nachdenke, desto mehr kommt es mir so vor, als hätte es vor allem mit dieser intensiven Situation zu tun. Es ist nicht real, es geht um die Dramatik.»
    «Was meinst du damit?»
    «Na ja, es geht schließlich wirklich um Leben und Tod, und du bist voll in den Alltag dieses Mannes integriert, in sein gruseliges Geheimnis eingeweiht. Da muss ja geradezu eine Art falsche Vertrautheit entstehen.

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