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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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hoffentlich Genaueres sagen können.»
    Es war, als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. Ich stand einfach dort und ließ das ständige Piepen der Geräte einen Rhythmus in mein Bewusstsein brennen.
    «Soll ich Sie für eine Weile ablösen? Damit Sie eine Pause machen können?»
    «Nein. Ich bleibe lieber hier.»
    Irgendwie hoffte ich, Will würde meine Stimme wahrnehmen. Irgendwie hoffte ich, er würde die Augen über der durchsichtigen Plastikmaske aufschlagen und murmeln: «Clark. Komm und setz dich endlich hin. Es sieht total unordentlich aus, wenn du so sinnlos da rumstehst.»
    Aber er lag einfach nur da.
    Ich wischte mir übers Gesicht. «Soll ich … soll ich Ihnen etwas zu trinken holen?»
    Mrs. Traynor sah auf. «Wie viel Uhr ist es?»
    «Viertel vor zehn.»
    «Wirklich?» Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es nicht glauben. «Danke, Louisa. Das wäre … das wäre sehr nett. Anscheinend bin ich schon sehr lange hier.»
    Ich hatte am Freitag nicht gearbeitet – zum Teil, weil die Traynors darauf bestanden, dass ich einen Tag freihatte, aber vor allem, weil die einzige Möglichkeit, einen Pass zu bekommen, war, mit dem Zug nach London zu fahren und mich bei der Passbehörde in die Schlange zu stellen. Nach meiner Rückkehr am Freitagabend war ich bei ihnen vorbeigegangen, um Will meine Beute zu zeigen und zu kontrollieren, dass sein Pass noch gültig war. Er war ein bisschen schweigsam, aber das war nicht besonders ungewöhnlich. An manchen Tagen fühlte er sich eben nicht so wohl wie an anderen. Ich war davon ausgegangen, dass es einer dieser Tage war. Um ehrlich zu sein, hatte ich den Kopf so voller Reisepläne, dass ich kaum an etwas anderes denken konnte.
    Den Samstagvormittag verbrachte ich damit, mit Dad meine Sachen bei Patrick abzuholen, und dann ging ich mit Mum einkaufen, weil ich einen Badeanzug und ein paar andere Dinge für die Reise brauchte, und am Samstag und Sonntag übernachtete ich bei meinen Eltern. Es war ganz schön eng, weil Treena und Thomas auch da waren. Am Montagmorgen stand ich um 7 Uhr auf, um rechtzeitig um 8 bei den Traynors zu sein. Als ich dort ankam, war das ganze Haus verwaist, die Vordertür und die Hintertür abgeschlossen. Ich fand keinen Zettel mit einer Nachricht. Von der Veranda aus rief ich dreimal Nathans Handynummer an, aber er nahm nicht ab. Mrs. Traynors Handy war auf die Mailbox umgeleitet. Schließlich, als ich schon eine Dreiviertelstunde auf der Treppe gesessen hatte, kam Nathans SMS.
Wir sind im Bezirkskrankenhaus. Will hat eine Lungenentzündung. Station C12.
    Nathan ging, und die nächste Stunde lang saß ich vor Wills Zimmer. Ich blätterte durch die Zeitschriften, die jemand offenbar im Jahre 1982 auf dem Tischchen vergessen hatte, und holte dann ein Taschenbuch heraus, aber es war unmöglich, sich aufs Lesen zu konzentrieren.
    Der Arzt kam zur Visite, aber ich hatte das Gefühl, ihm nicht in Wills Zimmer folgen zu können, solange Mrs. Traynor dort drinnen war. Als der Arzt fünfzehn Minuten später wieder ging, kam sie hinter ihm heraus. Ich weiß nicht genau, ob sie es mir nur sagte, weil sie einfach mit irgendwem reden musste und ich die einzige Person war, die in dem Moment zur Verfügung stand, aber sie sagte voller Erleichterung, dass der Arzt glaubte, die Infektion unter Kontrolle gebracht zu haben. Sie war von einem besonders aggressiven Bakterienstamm ausgelöst worden. Es war ein Glück, dass Will noch rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen war. Ihr ‹oder› hing in dem Schweigen zwischen uns.
    «Und was machen wir jetzt?», fragte ich.
    Sie zuckte mit den Schultern. «Wir warten ab.»
    «Soll ich Ihnen etwas zu essen holen? Oder soll ich mich zu Will setzen, sodass Sie etwas essen gehen können?»
    Gelegentlich gab es zwischen Mrs. Traynor und mir so etwas wie ein wortloses Verstehen. Ihr Gesicht wurde weicher – der übliche, harte Ausdruck verschwand –, und ich erkannte plötzlich, wie unfassbar müde sie aussah. Ich glaube, in der Zeit, in der ich bei ihnen war, ist sie um zehn Jahre gealtert.
    «Danke, Louisa», sagte sie. «Ich würde sehr gerne zu Hause vorbeigehen und mich umziehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, bei ihm zu bleiben. Ich möchte nicht, dass Will jetzt allein ist.»
    Nachdem sie weg war, ging ich in das Zimmer, machte die Tür hinter mir zu und setzte mich neben ihn. Er wirkte merkwürdig weit weg, als wäre der Will, den ich kannte, auf einer Reise und hätte nur seine Hülle zurückgelassen.

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