Ein ganzes halbes Jahr
Ich fragte mich, ob die Leute so aussahen, wenn sie tot waren. Dann befahl ich mir, nicht mehr an den Tod zu denken.
So saß ich da, sah dem Sekundenzeiger der Uhr zu und hörte von draußen gelegentlich murmelnde Stimmen oder quietschende Schritte auf dem Linoleum des Flurs. Zweimal kam eine Krankenschwester herein, überprüfte irgendwelche Werte, drückte auf ein paar Knöpfe und maß seine Temperatur, aber Will rührte sich immer noch nicht.
«Es geht ihm … doch gut, oder?», fragte ich sie.
«Er schläft», sagte sie beruhigend. «Das ist im Moment wahrscheinlich das Beste für ihn. Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen.»
Das sagt sich so leicht. Aber ich hatte in diesem Krankenhauszimmer viel Zeit zum Nachdenken. Ich dachte über Will und die beängstigende Geschwindigkeit nach, mit der er lebensbedrohlich krank geworden war. Ich dachte über Patrick nach und die Tatsache, dass ich, selbst nachdem ich meine Sachen aus seiner Wohnung geholt hatte, nachdem ich meinen Wandkalender abgenommen und zusammengerollt und meine sorgfältig in seine Kommodenschubladen geräumte Kleidung eingepackt hatte, nicht so niedergeschlagen und am Boden zerstört war, wie man es hätte erwarten können. Ich war weder tief unglücklich noch von Emotionen überwältigt und hatte auch sonst keine Gefühle, die man vermutlich haben sollte, wenn man sich nach Jahren von jemandem trennt. Stattdessen war ich ziemlich ruhig, ein bisschen traurig, und außerdem hatte ich vermutlich gewisse Schuldgefühle – sowohl aufgrund meiner Rolle bei dieser Trennung als auch, weil ich diese Gefühle nicht empfand, die ich haben sollte. Ich hatte ihm zwei SMS geschrieben, um ihm zu sagen, dass es mir wirklich leidtat und dass ich hoffte, er würde bei dem Xtreme Viking ein tolles Ergebnis erzielen. Aber er hatte nicht geantwortet.
Nach einer Stunde beugte ich mich vor, hob das Laken von Wills Arm, und da, blassbraun gegen den weißen Matratzenbezug, lag seine Hand. Eine Kanüle war mit Pflasterstreifen auf dem Handrücken befestigt. Als ich die Hand umdrehte, sah ich die immer noch hellroten Narben auf seinen Handgelenken. Ich fragte mich einen Augenblick, ob sie jemals verblassen würden oder ob sie ihn für immer daran erinnern würden, was er hatte tun wollen.
Sanft nahm ich seine Finger und umschloss sie mit meinen. Sie waren warm, die Finger eines sehr lebendigen Menschen. Ich war so seltsam beruhigt davon, wie sie sich in meiner Hand anfühlten, dass ich sie nicht gleich losließ, dass ich sie betrachtete, die Schwielen, die von einem Leben erzählten, das nicht ausschließlich hinter einem Schreibtisch verbracht worden war, die rosafarbenen Nägel, die nun immer von jemand anderem geschnitten werden mussten.
Will hatte schöne Männerhände – gut geformt und gleichmäßig, mit breiten Fingern. Es war bei ihrem Anblick schwer zu glauben, dass sie vollkommen kraftlos waren, dass sie nie mehr etwas von einem Tisch nehmen, einen Arm streicheln oder sich zur Faust ballen würden.
Ich fuhr mit der Fingerspitze über seine Knöchel. Eine kleine Stimme in mir fragte, ob ich es nicht peinlich finden müsste, wenn Will ausgerechnet in diesem Augenblick die Augen öffnen würde, aber dieses Gefühl hatte ich nicht. Stattdessen hatte ich das sichere Empfinden, dass es gut für ihn war, wenn seine Hand in meiner lag. Ich hoffte, dass er das irgendwie hinter der Mauer aus Medikamentenschlaf auch so empfand. Dann schloss ich die Augen und wartete.
Kurz nach vier Uhr wachte Will schließlich auf. Ich war draußen auf dem Flur, hatte mich über ein paar Stühle gelegt, las in einer alten Zeitung und sprang auf, als Mrs. Traynor herauskam, um es mir zu sagen. Sie wirkte erleichtert, als sie erwähnte, dass er redete und mich sehen wollte. Sie sagte, sie würde hinuntergehen und Mr. Traynor anrufen.
Und dann, als wäre es ein zwanghafter Reflex, fügte sie hinzu: «Bitte ermüden Sie ihn nicht.»
«Natürlich nicht», sagte ich.
Und schenkte ihr ein zauberhaftes Lächeln.
«Hallo», sagte ich und spähte an der Tür vorbei ins Zimmer.
Langsam drehte er mir den Kopf zu. «Selber hallo.»
Seine Stimme war rau, als hätte er die letzten dreißig Stunden nicht geschlafen, sondern herumgebrüllt. Ich setzte mich und sah ihn an. Sein Blick flackerte nach unten.
«Soll ich dir mal kurz die Maske abnehmen?»
Er nickte. Ich zog ihm die Maske behutsam über den Kopf. Wo sie die Haut bedeckt hatte, lag ein leichter Schweißfilm, und ich nahm
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