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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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den Körper, beinahe genauso aussah wie alle anderen Passagiere. Vor einem Bildschirm in 30000 Fuß Höhe, wo man nicht viel tun oder irgendwohin gehen konnte, unterschied ihn kaum etwas von ihnen. Er aß und schaute sich einen Film an, und meistens schlief er.
    Nathan und ich lächelten uns zögernd an und versuchten, uns zu benehmen, als wäre alles in Ordnung, alles gut. Ich sah aus dem Fenster, meine Gedanken so ungeordnet wie die ziehenden Wolken unter uns, und war noch nicht fähig zu realisieren, dass dies nicht einfach nur eine logistische Herausforderung für mich war, sondern auch ein Abenteuer – dass ich, Lou Clark, tatsächlich gerade auf die andere Seite der Welt flog. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich konnte mir in diesem Moment überhaupt nichts vorstellen, was über Will hinausging. Ich fühlte mich wie meine Schwester nach Thomas’ Geburt. «Es ist, als würde man durch einen Trichter schauen», hatte sie gesagt und ihren Neugeborenen angeschaut. «Die Welt ist auf ihn und mich zusammengeschrumpft.»
    Sie hatte mir eine SMS geschrieben, als wir am Flughafen waren.
Du schaffst das. Ich bin verdammt stolz auf dich. xxx
    Jetzt rief ich die SMS noch einmal auf, nur um sie anzuschauen. Und auf einmal war ich ganz gerührt. Vielleicht lag es an ihrer Wortwahl oder daran, dass ich müde und ängstlich war und es immer noch kaum glauben konnte, dass ich uns überhaupt so weit gebracht hatte. Schließlich, um endlich meinen kreisenden Gedanken zu entkommen, schaltete ich den kleinen Bildschirm an und schaute, ohne recht hinzuschauen, ein paar amerikanische Comedy-Folgen, bis der Himmel um uns dunkel wurde.
    Als ich wieder aufwachte, stand die Stewardess mit dem Frühstück vor uns, Will redete mit Nathan über einen Film, den sie gerade zusammen gesehen hatten, und wir waren – erstaunlicherweise und allen Widrigkeiten zum Trotz – nur noch eine Stunde von Mauritius entfernt.
    Erst als wir schließlich auf dem Sir Seewoosagur Ramgoolam International Airport landeten, begann ich langsam zu begreifen, dass das hier tatsächlich passierte. Ziemlich erledigt und steif von dem langen Flug kamen wir durch die Ankunftshalle, und ich hätte schluchzen können vor Erleichterung, als ich das Spezialtaxi des Reiseveranstalters entdeckte. An diesem ersten Morgen, als der Fahrer mit uns zu dem Resort raste, bekam ich wenig von der Insel mit. Es stimmte, die Farben schienen strahlender als in England, der Himmel leuchtete in einem Azurblau, das immer tiefer und tiefer wurde bis zur Unendlichkeit. Ich sah, dass die Insel mit üppigem Grün bewachsen war, mit Zuckerrohrplantagen durchsetzt, und das Meer wie ein Streifen Quecksilber zwischen den Vulkanhügeln aufblitzte. In der Luft hing ein rauchiger, würziger Geruch, und die Sonne stand so hoch am Himmel, dass ich in ihrem gleißenden Licht blinzeln musste. In meinem erschöpften Zustand kam ich mir vor, als hätte mich jemand auf den Seiten einer Hochglanzzeitschrift aufgeweckt.
    Doch als sich meine Sinne an die neuen Eindrücke gewöhnt hatten, schaute ich immer wieder zu Will hinüber. Sein Gesicht war blass und müde, sein Kopf merkwürdig tief zwischen die Schultern gesunken. Und dann fuhren wir in eine palmengesäumte Auffahrt, hielten vor einem niedrigen Gebäude aus Holz, und schon war der Fahrer ausgestiegen, um unser Gepäck auszuladen.
    Wir lehnten den Eistee und eine Führung über das Hotelgelände ab und gingen stattdessen sofort in Wills Zimmer, stellten seine Taschen ab, legten ihn ins Bett, und beinahe bevor wir die Vorhänge zugezogen hatten, schlief er schon wieder. Wir waren angekommen. Ich hatte es geschafft. Ich stand vor Wills Zimmer auf der Veranda, erlaubte es mir endlich, tief auszuatmen, während Nathan durchs Fenster die weiße Brandung über einem Korallenriff betrachtete. Ich weiß nicht, ob es an der Reise lag oder daran, dass es der schönste Ort war, den ich je gesehen hatte, aber auf einmal war ich den Tränen nah.
    «Es ist alles okay», sagte Nathan, der meinen Gesichtsausdruck gesehen hatte. Und dann, vollkommen unerwartet, kam er zu mir heraus und zog mich in eine feste Umarmung. «Lou. Entspannen Sie sich, Lou. Alles wird gut. Wirklich. Das haben Sie sehr gut gemacht.»

    Es dauerte fast drei Tage, bis ich anfing, ihm zu glauben. Will verschlief die ersten achtundvierzig Stunden – und dann begann er erstaunlicherweise immer besser auszusehen. Seine Haut bekam wieder Farbe, und die bläulichen Schatten unter seinen Augen

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