Ein ganzes halbes Jahr
festhielt, als wäre es in Stein gemeißelt. Eine Million Fragen wirbelten durch meinen Kopf. Warum genügt dir das nicht? Warum genüge ich dir nicht? Warum kannst du mir nicht vertrauen? Wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, wäre es dann anders ausgegangen? Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich seine sonnengebräunten Hände anschaute, diese kräftigen Finger, nur Zentimeter von meinen entfernt, und ich dachte daran, wie sich unsere Finger verschränkt hatten – seine Wärme, die Illusion, sogar in der Unbeweglichkeit, von einer Art Kraft –, und mir schnürte sich die Kehle zu, bis ich dachte, ich bekäme keine Luft mehr und ich mich auf die Toilette zurückziehen musste, um mich übers Waschbecken zu beugen und unter der Neonröhre leise zu schluchzen. Manchmal musste ich bei dem Gedanken daran, was Will trotz allem tun wollte, den Drang niederkämpfen, einfach loszuschreien. Es war, als würde ich verrückt werden, und ich hätte mich genauso gut einfach in den Mittelgang setzen und heulen und heulen können, bis jemand eingriff. Bis jemand anderes dafür sorgte, dass er es nicht tun konnte.
Und deshalb, obwohl es kindisch aussah – und obwohl mich die Flugbegleiter durch meine Weigerung, mit Will zu reden, ihn anzusehen, ihn zu füttern, für die herzloseste Frau hielten, der sie je begegnet waren –, wusste ich, dass darin, so zu tun, als wäre er nicht da, meine einzige Chance lag, diese Stunden der erzwungenen Nähe zu verkraften. Wenn ich gedacht hätte, Nathan könnte alles allein erledigen, hätte ich meinen Flug umgebucht, wäre vielleicht sogar verschwunden, bis ich sicher gewesen wäre, dass zwischen uns ein ganzer Kontinent lag, nicht bloß ein paar lächerliche Zentimeter.
Die beiden Männer schliefen, und das war für mich eine Erleichterung – eine Erholungspause von der Anspannung. Ich starrte auf den kleinen Bildschirm, und mit jeder Meile, die wir Richtung Zuhause flogen, wurde mir das Herz schwerer und meine Unruhe größer. Langsam wurde mir klar, dass mein Scheitern nicht nur mich betraf. Wills Eltern würden am Boden zerstört sein und vermutlich mir die Schuld geben. Wills Schwester würde mich wahrscheinlich verklagen. Und mein Scheitern betraf auch Will. Ich war damit gescheitert, ihn zu überzeugen. Ich hatte ihm alles angeboten, was ich konnte, einschließlich mir selbst, und in nichts von dem, was ich ihm ausmalte, hatte er einen Grund zum Weiterleben entdeckt.
Vielleicht, dachte ich, hätte er jemand Besseren als mich gebraucht. Jemand Klügeren. Jemand wie Treena hätte womöglich überzeugendere Einfälle gehabt. So jemand wäre auf eine vergessene medizinische Studie gestoßen oder etwas anderes, das ihm geholfen hätte. So jemand hätte ihn vielleicht von seinem Entschluss abgebracht. Die Tatsache, dass ich den Rest meines Lebens mit diesem Wissen verbringen musste, ließ es mir beinahe schwindelig werden.
«Willst du was trinken, Clark?» Wills Stimme brach in meine Gedanken ein.
«Nein. Danke.»
«Liegt mein Ellbogen zu weit über deiner Armlehne?»
«Nein. Es geht schon.»
Erst in diesen letzten paar Stunden, als es dunkel geworden war, erlaubte ich mir, ihn anzusehen. Mein Blick glitt langsam von dem Bildschirm weg, bis er verstohlen in dem gedämpften Licht der Flugzeugkabine auf ihm ruhte. Und als ich sein Gesicht betrachtete, so braun und gutaussehend, so friedlich in seinem Schlaf, rollte mir eine Träne über die Wange. Vielleicht wurde sich Will irgendwie meines prüfenden Blicks bewusst, denn er regte sich kurz, doch er wachte nicht auf. Und ohne dass es die Stewardessen oder Nathan mitbekamen, zog ich Will die Decke bis zum Hals hoch und steckte sie behutsam fest, damit er im kühlen Luftstrom der Klimaanlage nicht fror.
Sie warteten in der Ankunftshalle. Ich hatte geahnt, dass sie kommen würden. Bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht, während wir Will durch die Passkontrolle rollten. Die wohlmeinenden Beamten behandelten uns bevorzugt, obwohl ich darum betete, dass wir warten müssten, stundenlang oder noch besser tagelang in der Schlange stehen müssten. Aber nein, wir überquerten die riesige Linoleumfläche, ich schob die Gepäckkarre, Nathan Wills Rollstuhl, und als die Glastüren aufglitten, waren sie da, standen hinter der Abtrennung, Seite an Seite, in einem seltenen Anschein von Eintracht. Ich sah, wie sich Mrs. Traynors Miene bei Wills Anblick kurz aufhellte, und ich dachte automatisch: Klar, er sieht ja auch so gut aus . Und zu
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