Ein ganzes halbes Jahr
so egoistisch, Will. So dumm. Selbst wenn es auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit gegeben hätte, dass ich mit dir in die Schweiz komme … selbst wenn du geglaubt hast, dass ich, nach allem, was ich für dich getan habe, imstande wäre, das zu tun … ist das wirklich alles, was du mir zu sagen hast? Ich reiße mir vor dir das Herz aus dem Leib, und alles, was du zu sagen hast, ist: ‹Nein, du genügst mir nicht. Und jetzt will ich, dass du mitkommst und dir das Allerschlimmste ansiehst, was du dir nur vorstellen kannst.› Das, was ich seit der Minute gefürchtet habe, in der ich es erfuhr. Hast du eigentlich überhaupt eine Ahnung davon, was du da von mir verlangst?»
Ich schrie inzwischen. Ich stand vor ihm und schrie wie eine Verrückte. «Fuck you, Will Traynor. Fuck you. Ich wünschte, ich hätte diesen verdammten Job nie angenommen. Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet.» Dann brach ich in Tränen aus und rannte von ihm weg über den Strand und in mein Hotelzimmer.
Seine Stimme, die meinen Namen rief, klang mir noch lange in den Ohren, nachdem ich meine Zimmertür hinter mir zugeschlagen hatte.
[zur Inhaltsübersicht]
Kapitel 24
E s gibt nichts Unangenehmeres für Vorübergehende, als einen Mann im Rollstuhl eine Frau anflehen zu sehen, die sich eigentlich um ihn kümmern sollte. Es gehört sich anscheinend einfach nicht, auf einen Behinderten wütend zu sein, dessen Pflegekraft man ist.
Ganz besonders, wenn er sich eindeutig nicht selbst bewegen kann und leise sagt: «Clark. Bitte. Komm her. Bitte .»
Aber ich konnte nicht. Ich konnte ihn nicht ansehen. Nathan hatte Wills Sachen gepackt, und ich hatte die beiden am nächsten Morgen in der Hotellobby getroffen – Nathan litt noch unter seinem Kater – und mich vom ersten Moment an geweigert, etwas mit Will zu tun zu haben. Ich war wütend und unglücklich. In meinem Kopf schrie unaufhörlich eine Stimme herum und befahl mir, größtmöglichen Abstand zu Will zu halten. Nach Hause zu gehen. Ihn nie wiederzusehen.
«Alles klar?», sagte Nathan, der neben mir aufgetaucht war.
«Nein», sagte ich. «Und ich will nicht darüber reden.»
«Kater?»
«Nein.»
«Ist es das, was ich denke?» Mit einem Mal hatte sich seine Miene verdüstert.
Ich konnte nicht sprechen. Ich nickte und sah, wie Nathan den Kiefer anspannte. Aber er war stärker als ich. Er war schließlich Profi. Innerhalb von Minuten war er wieder bei Will, zeigte ihm etwas, das er in einer Zeitschrift entdeckt hatte, und spekulierte über die Chancen einer Fußballmannschaft, die sie beide kannten. Wenn man sie so ansah, wäre man nie darauf gekommen, welche Tragweite die Information besaß, die Nathan gerade von mir bekommen hatte.
Ich schaffte es, mir während der gesamten Wartezeit am Flughafen irgendeine Beschäftigung zu suchen. Ich fand tausend Kleinigkeiten, die erledigt werden mussten, beschriftete Gepäckanhänger, kaufte einen Kaffee, studierte die Zeitungen, ging auf die Toilette – nur, um ihn nicht ansehen zu müssen. Nur, um nicht mit ihm reden zu müssen. Aber immer wieder einmal ging Nathan kurz weg, und wir saßen allein nebeneinander, der kurze Abstand zwischen uns vibrierte vor unausgesprochenen Vorwürfen.
«Clark …», fing er mehrfach an.
«Nein», schnitt ich ihm das Wort ab. «Ich will nicht mit dir reden.»
Es überraschte mich, wie eiskalt ich sein konnte. Die Stewardessen überraschte es ganz bestimmt auch. Ich sah sie auf dem Flug miteinander darüber tuscheln, dass ich mich strikt von Will wegdrehte, mir die Kopfhörer in die Ohren steckte oder unbewegt aus dem Fenster starrte.
Ausnahmsweise wurde er nicht einmal sauer. Das war beinahe das Schlimmste daran. Er wurde nicht sauer, und er machte keine sarkastischen Bemerkungen, und er wurde einfach nur immer schweigsamer, bis er schließlich fast gar nichts mehr sagte. Der arme Nathan musste das Gespräch allein aufrechterhalten, musste fragen, ob Will Tee oder Kaffee wollte oder ein Tütchen mit gerösteten Erdnüssen oder ob er sich mal an uns vorbeizwängen dürfe, weil er zur Toilette musste.
Es klingt jetzt vielleicht kindisch, aber es war nicht nur eine Frage des Stolzes. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ich ihn verlieren würde, dass er so dickköpfig und entschlossen das Gute nicht sehen wollte oder das, was gut sein könnte, und dass er seine Entscheidung nicht zurücknehmen würde. Ich konnte nicht glauben, dass er an diesem Datum
Weitere Kostenlose Bücher