Ein ganzes halbes Jahr
bringen Sie ein feuchtes Handtuch, das legen wir ihm ins Genick. Wir können ihn nicht zum Arzt bringen, solange es dermaßen schneit. Diese verdammte Vertretungsschwester. Das hätte sie heute Morgen schon feststellen müssen.»
So ärgerlich hatte ich Nathan noch nie gesehen. Er sah mich kaum an.
Ich rannte los, um den Ventilator zu holen.
Wills Temperatur auf ein annehmbares Level zu senken, dauerte beinahe vierzig Minuten. Während wir darauf warteten, dass das extrastarke Fiebermedikament wirkte, legte ich Will auf Nathans Anweisung ein feuchtes Handtuch auf die Stirn und eines in den Nacken. Wir zogen ihm das Shirt aus, deckten ihn mit einem dünnen Baumwolllaken zu und richteten den kühlen Luftstrom des Ventilators auf ihn. Ohne Shirt waren die Narben an seinen Armen deutlich zu erkennen. Wir taten alle drei so, als würde ich sie nicht sehen.
Will ertrug das alles schweigend, nur auf Nathans Fragen antwortete er mit Ja oder Nein, und selbst dabei war er kaum zu verstehen. Jetzt, wo er in hellem Licht lag, erkannte ich, dass er wirklich ernsthaft krank aussah, und ich fühlte mich schrecklich, weil ich es nicht begriffen hatte. Ich entschuldigte mich so lange, bis Nathan sagte, es ginge ihm auf die Nerven.
«Also», sagte er. «Sie müssen mir jetzt genau zuschauen. Es kann sein, dass Sie das später alleine machen müssen.»
Ich fühlte mich zu schwach, um Widerspruch einzulegen, aber es war mir schon ein bisschen peinlich, als Nathan den Bund von Wills Schlafanzughose herunterzog, sodass ein blasser Streifen Haut sichtbar wurde, und sorgsam den Gazeverband an dem kleinen Schlauch in Wills Bauch entfernte, den Schlauch säuberte und den Verband erneuerte. Dann zeigte er mir, wie man den Beutel wechselte, der an Wills Bett hing, erklärte, warum er immer tiefer hängen musste, als Will lag, und ich war über meine eigene Sachlichkeit überrascht, mit der ich mich mit dem Beutel voll warmer Flüssigkeit auf den Weg aus dem Zimmer machte. Ich war froh, dass mich Will kaum wahrzunehmen schien – nicht nur, weil er sicher eine bissige Bemerkung gemacht hätte, sondern weil ich das Gefühl hatte, es wäre ihm sonst peinlich gewesen, dass ich bei einem so intimen Teil seiner Pflege dabei war.
«Das war’s», sagte Nathan, als Will eine Stunde später endlich zwischen frischen Baumwolllaken döste und zwar nicht gerade gesund, aber auch nicht mehr so furchtbar krank aussah.
«Lassen Sie ihn schlafen. Aber wecken Sie ihn in ein paar Stunden und sorgen Sie dafür, dass er möglichst einen ganzen Becher leertrinkt. Und um fünf Uhr noch eine Fiebertablette, okay? Seine Temperatur schießt vielleicht in der Stunde davor noch mal hoch, aber vor fünf soll er keine Tabletten mehr nehmen.»
Ich kritzelte alles auf einen Block, weil ich Angst hatte, irgendetwas falsch zu machen.
«Und heute Abend müssen Sie das, was wir gerade getan haben, alleine machen. Ist das okay für Sie?» Nathan zog sich wieder an wie ein Inuk und machte sich zum Gehen fertig. «Lesen Sie einfach noch mal den Folder durch. Und keine Panik. Wenn es Probleme gibt, rufen Sie mich einfach an. Ich sage Ihnen dann am Telefon, was zu tun ist. Und wenn es wirklich sein muss, komme ich noch einmal her.»
Als Nathan gegangen war, blieb ich in Wills Schlafzimmer. Ich wagte nicht, ihn allein zu lassen. In einer Ecke stand ein alter Ledersessel mit einer Leselampe, der vermutlich aus Wills früherem Leben stammte. Ich nahm mir ein Buch mit Kurzgeschichten aus dem Regal, setzte mich damit in den Sessel und zog die Beine unter meinen Körper.
Im Zimmer herrschte eine seltsam friedvolle Atmosphäre. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen sah ich die weiß verschneite Welt, die schweigend und wunderschön dort draußen lag. Hier drinnen war es warm und still, nur das gelegentliche Ticken und Zischen der Heizung unterbrach meine Gedanken. Ich las, und immer wieder hob ich den Blick, um zu überprüfen, ob Will noch schlief. Mir fiel auf, dass es in meinem Leben noch nie Zeiten gegeben hatte, in denen ich einfach in Ruhe dagesessen und nichts getan hatte. Wenn man in einem Elternhaus wie meinem aufwächst, in dem ständig gestaubsaugt wird oder der Fernseher läuft, lernt man solch eine Ruhe nicht kennen. Und wenn der Fernseher ausnahmsweise einmal nicht lief, legte Dad seine alten Elvis-Platten auf und drehte die Lautstärke bis zum Anschlag hoch. Und im Café hatte natürlich auch immer ein gewisser Geräuschpegel geherrscht.
Hier aber konnte ich
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