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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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Untersuchungsergebnisse telefonisch mitgeteilt werden. Wahrscheinlich haben wir sie am Montag.»
    Dann hörte ich Wills Stimme: «Bekomme ich das Medikament unten in der Apotheke?»
    «Ja. Hier im Haus. Von den anderen können Sie dort wahrscheinlich auch gleich welche mitnehmen.»
    Dann sagte eine Frau: «Soll ich die Unterlagen nehmen?»
    Sie waren offenbar im Aufbruch. Ich klopfte, und jemand rief, ich solle hereinkommen. Mehrere Augenpaare richteten sich auf mich.
    «Entschuldigung», sagte der Arzt und stand von seinem Stuhl auf. «Ich dachte, Sie wären der Physiotherapeut.»
    «Ich bin Wills … Hilfe», sagte ich und blieb an der Tür stehen. Will saß vorgebeugt in seinem Stuhl, und Nathan zog ihm das Hemd über den Rücken. «Tut mir leid, ich habe geglaubt, Sie wären fertig.»
    «Lassen Sie uns noch eine Minute, ja, Louisa?» Wills Stimme hallte durch den Raum.
    Entschuldigungen murmelnd zog ich mich zurück. Mein Gesicht glühte.
    Es war nicht der Anblick von Wills magerem und vernarbtem Körper, der mich schockiert hatte. Auch nicht der leicht irritierte Blick des Arztes, derselbe Blick, mit dem mich Mrs. Traynor Tag für Tag ansah – ein Blick, der mir klarmachte, dass ich immer noch die alte Vollidiotin war, auch wenn ich jetzt mehr Geld verdiente.
    Nein, es waren die leuchtend roten Narben an Wills Handgelenken, die langen, gezackten Narben, die sie nicht mehr verstecken konnten, obwohl Nathan Wills Ärmel hastig heruntergezogen hatte.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 6
    E s begann so unvermittelt zu schneien, dass ich unter blauem Himmel zu Hause wegging, und als ich keine halbe Stunde später unterhalb der Burg vorbeikam, sah sie aus wie eine Torte mit weißer Zuckerglasur.
    Ich stapfte die Auffahrt hoch, meine Schritte wurden vom Schnee gedämpft, meine Zehen waren schon taub, und ich fror in meinem zu dünnen chinesischen Seidenmantel. Dicke weiße Flocken fielen aus einer eisengrauen Unendlichkeit, sodass ich Granta House kaum sah. Alle Geräusche schienen ausgeblendet, und alle Bewegungen wirkten unnatürlich verlangsamt. Die Fußgänger auf den Gehwegen rutschten aus und schrien erschrocken auf. Ich zog mir den Schal über die Nase und wünschte, ich hätte etwas Passenderes angezogen als Ballerinas und einen Samt-Minirock.
    Zu meiner Überraschung öffnete mir nicht Nathan die Tür, sondern Wills Vater.
    «Er liegt im Bett», sagte er und sah von der Veranda aus zum Himmel hinauf. «Es geht ihm nicht besonders. Ich habe gerade überlegt, ob ich den Arzt rufen soll.»
    «Wo ist Nathan?»
    «Hat den Vormittag frei. Klar, dass es heute passieren muss. Die Krankenschwester vom Vertretungsdienst hat sich ungefähr sechs Sekunden um Will gekümmert, dann war sie wieder weg. Wenn es so weiterschneit, weiß ich nicht, was wir später machen sollen.» Er zuckte mit den Schultern, als gäbe es ohnehin keine Lösung, und ging in den Flur zurück. Anscheinend war er ziemlich erleichtert, dass er nicht mehr verantwortlich war. «Sie wissen doch, was er braucht, oder?», rief er über die Schulter zurück.
    Ich zog Mantel und Schuhe aus, und da ich wusste, dass Mrs. Traynor bei Gericht war, weil sie die Verhandlungen in Wills Kalender eintrug, legte ich meine nassen Socken zum Trocknen auf die Heizung. In dem Korb mit frischer Wäsche lag ein Paar von Wills Socken, also zog ich sie an. Sie waren viel zu groß und sahen komisch an mir aus, aber es war himmlisch, wieder warme, trockene Füße zu haben. Will antwortete nicht, als ich rief, also machte ich ihm nach einer Weile etwas zu trinken, klopfte leise an seine Zimmertür und spähte hinein. In dem schwachen Licht konnte ich gerade eben seinen Körper unter der Decke ausmachen. Er schlief tief und fest.
    Ich trat einen Schritt zurück, schloss die Tür hinter mir und begann mit der Vormittagsarbeit.
    Meine Mutter schien eine beinahe körperliche Befriedigung aus einem ordentlichen Haushalt zu ziehen. Ich hatte inzwischen einen Monat lang täglich gestaubsaugt und geputzt und wusste immer noch nicht, was daran so toll war. Ich vermutete, dass in meinem Leben niemals der Zeitpunkt kommen würde, an dem ich lieber selbst putzte, als es jemand anderem zu überlassen.
    Doch an einem Tag wie diesem, an dem Will im Bett lag und die Welt draußen zum Stillstand gekommen schien, erkannte ich etwas von dem meditativen Reiz, der darin lag, mich von einem Ende des Anbaus zum anderen vorzuarbeiten. Während ich abstaubte und wischte, nahm ich das Radio von

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