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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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herrschte kurzes Schweigen.
    «Sie sind ja verrückt. Ihre ganze Familie ist verrückt.»
    «Aber es hat funktioniert.»
    «Und Sie sind eine erbärmliche Sängerin. Ich hoffe, Ihr Vater war besser.»
    «Ich glaube, eigentlich wollten Sie sagen: ‹Danke, Miss Clark, für den Versuch, mich zu unterhalten.›»
    «Ich schätze, das hat ungefähr so viel gebracht wie die ganze Psychotherapie, mit der ich schon traktiert wurde», sagte er. «Okay, Clark. Erzählen Sie mir noch etwas. Etwas ohne Gesang.»
    Ich dachte ein bisschen nach.
    «Mmh … also … vor ein paar Tagen haben Sie doch meine Schuhe so angestarrt, oder?»
    «Das lässt sich schwer vermeiden.»
    «Also, meine Mum behauptet, das mit meinem Schuhtick hätte angefangen, als ich drei Jahre alt war. Sie hatte mir ein paar helltürkise Glitzergummistiefel mitgebracht – so etwas war damals ziemlich selten. Kinder hatten entweder die ganz normalen grünen oder rote, wenn man Glück hatte. Und sie sagt, ab dem Tag, an dem sie diese Gummistiefel mitgebracht hat, hätte ich mich geweigert, sie auszuziehen. Ich habe sie im Bett getragen, in der Badewanne, im Kindergarten, den ganzen Sommer lang. Meine Lieblingskombination waren diese Glitzerstiefel und meine Hummelstrumpfhosen.»
    «Hummelstrumpfhosen?»
    «Schwarz-gelb gestreift.»
    «Hinreißend.»
    «Das klingt jetzt aber ein bisschen brutal.»
    «Aber es stimmt. Die Vorstellung ist furchtbar.»
    «Vielleicht für Sie, aber erstaunlicherweise, Will Traynor, suchen sich nicht alle Frauen ihre Kleidung danach aus, ob sie den Männern darin gefallen.»
    «Blödsinn.»
    «Nein, überhaupt nicht.»
    «Bei allem, was Frauen tun, denken sie an die Männer. Bei allem, was jeder tut, hat er Sex im Kopf. Haben Sie denn Eros und Evolution nicht gelesen?»
    «Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht auf Ihrem Bett sitze und den Molahonkey-Song singe, um Sie zu verführen. Und als ich drei war, fand ich gestreifte Beine einfach ganz, ganz toll.»
    Ich stellte fest, dass die Beklemmung, die mich den ganzen Tag beherrscht hatte, mit jeder Bemerkung Wills weiter abflaute. Ich fühlte mich nicht mehr so, als wäre ich ganz allein für einen hilflosen Querschnittsgelähmten verantwortlich. Ich saß einfach da, neben einem besonders sarkastischen Kerl, und unterhielt mich mit ihm.
    «Und dann? Was ist aus diesen sagenhaften Glitzergummistiefeln geworden?»
    «Mum musste sie wegwerfen. Ich habe schrecklichen Fußpilz bekommen.»
    «Sehr angenehm.»
    «Und die Strumpfhosen hat sie auch weggeschmissen.»
    «Warum?»
    «Das habe ich nie erfahren. Aber es hat mir das Herz gebrochen. Ich habe nie mehr ein Paar Strumpfhosen gefunden, die ich so schön fand. Sie werden nicht mehr hergestellt. Oder wenn, dann nicht für erwachsene Frauen.»
    «Das kann man wirklich kaum nachvollziehen.»
    «Oh, machen Sie sich nur lustig. Haben Sie denn schon einmal etwas so geliebt?»
    Ich konnte ihn jetzt kaum mehr sehen, es war noch dämmriger im Zimmer geworden. Ich hätte die Deckenlampe einschalten können, aber irgendwie wollte ich das nicht. Und sobald mir klargeworden war, was ich da gesagt hatte, hätte ich es am liebsten zurückgenommen.
    «Ja», sagte er leise. «Das habe ich.»
    Wir unterhielten uns noch ein bisschen, dann nickte Will ein. Ich lag neben ihm, beobachtete, wie er atmete, und fragte mich, was er sagen würde, wenn er aufwachte und feststellte, dass ich ihn anstarrte. Seine zu langen Haare und die umschatteten Augen und den sprießenden Bart. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Alles erschien mir so surreal, ich war auf einer Insel außerhalb der Zeit. Ich war der einzige Mensch, der mit ihm im Haus war, und ich hatte immer noch Angst, ihn allein zu lassen.
    Kurz nach elf bemerkte ich, dass er wieder zu schwitzen begann, und seine Atmung wurde flacher. Ich weckte ihn und gab ihm eine fiebersenkende Tablette. Er sagte nichts weiter, murmelte nur einen Dank. Ich wechselte das Laken, mit dem er zugedeckt war, und bezog sein Kopfkissen neu, und dann, als er wieder eingeschlafen war, legte ich mich einen halben Meter von ihm entfernt auf sein Bett, und eine ganze Weile später schlief auch ich ein.

    Ich wachte davon auf, dass jemand meinen Namen sagte. Ich war in einem Klassenzimmer mit dem Kopf auf der Schulbank eingeschlafen, und die Lehrerin klopfte auf die Tafel und sagte immer wieder meinen Namen. Ich wusste, dass ich aufpassen sollte, wusste, dass die Lehrerin dieses Nickerchen

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