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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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Mann in sich hineinlächelte. Nicht sie auch noch , dachte ich, und dann verbannte ich die Vorstellung aus meinem Kopf.
    «Ja. Ja, das scheint mir auch so.»
    «Meinst du, sie ist die Richtige?»
    Ich nippte an meinem Drink, bevor ich antwortete. Zwei Fingerbreit Gin, eine Scheibe Zitrone und sehr viel Tonicwater. «Wer weiß?», sagte ich. «Es kommt mir vor, als hätte ich keine Ahnung mehr, was richtig und was falsch ist.»
    «Er mag sie. Da bin ich ganz sicher. Wir haben uns vor ein paar Tagen beim Fernsehen unterhalten, und er hat sie zweimal erwähnt. Das hat er vorher nicht getan.»
    «Ja. Aber mach dir lieber nicht zu große Hoffnungen.»
    «Musst du das jetzt sagen?»
    Steven wandte sich vom Feuer ab. Er musterte mich, vielleicht fielen ihm die neuen Falten um meine Augen auf oder dass ich meinen Mund in letzter Zeit ständig zu einem dünnen, beunruhigten Strich zusammenpresste. Dann wanderte sein Blick zu dem kleinen Goldkreuz, das ich jetzt immer trage. Ich mochte es nicht, wenn er mich so ansah. Ich wurde dabei nie das Gefühl los, dass er mich mit einer anderen verglich.
    «Ich bin nur realistisch.»
    «Du klingst … du klingst, als würdest du schon damit rechnen, dass es passiert.»
    «Ich kenne meinen Sohn.»
    «Unseren Sohn.»
    «Ja. Unseren Sohn.» Aber mehr mein Sohn, dachte ich. Du warst doch im Grunde nie für ihn da. Du warst bloß die Leerstelle, die er immer mit aller Kraft beeindrucken wollte.
    «Er wird seine Meinung ändern», sagte Steven. «Wir haben noch viel Zeit.»
    Da standen wir also. Ich trank einen großen Schluck, das eisgekühlte Getränk fühlte sich gegen die Wärme, die das Kaminfeuer abstrahlte, sehr kalt an.
    «Ich denke immer …», sagte ich und starrte in die Flammen, «dass ich etwas übersehe, was ich tun könnte.»
    Mein Mann beobachtete mich immer noch. Ich spürte seinen Blick auf mir, aber ich konnte ihn nicht erwidern. Vielleicht hätte er dann den Arm um mich gelegt, aber ich glaube, dafür war es mit uns schon zu weit gekommen.
    Er nippte an seinem Drink. «Du kannst nur tun, was in deiner Macht steht, Darling.»
    «Das ist mir klar. Aber es reicht trotzdem nicht, oder?»
    Er drehte sich wieder zum Feuer um und stocherte an einem Holzscheit herum, bis ich mich umgedreht hatte und leise aus dem Zimmer gegangen war.
    Genau wie er es vorausgeahnt hatte.

    Als mir Will erzählte, was er vorhat, musste er sich wiederholen, weil ich nicht glauben konnte, dass ich ihn beim ersten Mal richtig verstanden hatte. Ich blieb ganz ruhig, als mir aufging, was er da vorschlug, und dann erklärte ich ihm, das sei vollkommen lächerlich, und ging entschlossen aus dem Zimmer. Es ist ein unfairer Vorteil, den man gegenüber einem Mann im Rollstuhl hat, dass man einfach gehen kann. Zwischen dem Anbau und dem Haupthaus sind zwei Stufen, und ohne Nathans Hilfe bewältigt er sie nicht. Ich schloss die Tür zum Anbau hinter mir, stand in meinem Korridor, und die Worte, die mein Sohn so ruhig ausgesprochen hatte, schrillten in meinen Ohren.
    Ich glaube, ich stand über eine halbe Stunde bewegungslos da.
    Er weigerte sich, es dabei zu belassen. Will hatte schon immer das letzte Wort haben müssen. Er wiederholte seine Forderung jedes Mal, wenn ich zu ihm kam, bis ich mich beinahe selbst dazu überreden musste, ihn täglich wenigstens einmal zu besuchen. Ich will so nicht leben, Mutter. Das ist nicht das Leben, das ich mir ausgesucht habe. Es gibt keine Aussicht auf Besserung, und deshalb ist es ein vollkommen vernünftiger Wunsch, diesen Zustand auf eine Art zu beenden, die ich für geeignet halte. Ich hörte ihn und konnte mir genau vorstellen, wie er bei seinen Geschäftsterminen aufgetreten war, während seiner Karriere, die ihn reich und überheblich gemacht hatte. Er war ein Mann, der daran gewöhnt war, sich Gehör zu verschaffen. Er konnte es nicht ertragen, dass ich bis zu einem gewissen Grad die Macht hatte, über seine Zukunft zu bestimmen; dass ich wieder zur Mutter geworden war.
    Er musste den Selbstmordversuch unternehmen, bevor ich zustimmte. Ich habe es nicht aus religiösen Gründen abgelehnt – obwohl die Vorstellung schrecklich war, dass Will durch seine eigene Verzweiflung zur Hölle verdammt war. (Ich glaubte lieber, dass Gott, ein gütiger Gott, unsere Leiden versteht und uns unsere Schuld vergibt.)
    Es ist einfach diese Sache, die man am Muttersein erst versteht, wenn man eine ist: Man sieht nicht den erwachsenen Mann vor sich – den unrasierten, stinkenden,

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