Ein ganzes halbes Jahr
Kopf, sodass ich das Ergebnis meiner Arbeit besser sehen konnte. «Es sei denn, das soll eines Ihrer alternativen Modestatements sein.»
«Sie möchten, dass ich mit dem Haarschnitt weitermache?»
«Na ja, es hat Ihnen ja anscheinend Spaß gemacht. Und es wäre nett, nicht mehr so auszusehen, als wäre ich aus einer Anstalt ausgebrochen.»
Schweigend holte ich ein Handtuch und die Schere.
«Nathan fühlt sich eindeutig wohler, seit ich wie ein Mann aussehe», sagte er. «Allerdings hat er mich darauf hingewiesen, dass ich mich jeden Tag rasieren muss, wenn ich mein Gesicht nicht mehr hinter meinen Haaren verstecken kann.»
«Oh», sagte ich.
«Das stört Sie doch nicht, oder? Und über die Wochenenden lasse ich mir einen schicken Dreitagebart wachsen.»
Ich konnte nicht mit ihm sprechen. Es fiel mir sogar schwer, ihn auch nur anzusehen. Ich fühlte mich seltsamerweise, als wäre mein Freund fremdgegangen. Es war, als hätte Will mich betrogen.
«Clark?»
«Hm?»
«Sie haben wieder einen Ihrer nervtötend schweigsamen Tage. Was ist mit ‹gesprächig bis zur Grenze der Belästigung›?»
«Sorry», sagte ich.
«Wieder der Marathon-Mann? Was hat er dieses Mal gemacht? Er ist doch nicht losgelaufen und einfach nicht mehr wiedergekommen, oder?»
«Nein.» Ich nahm eine Strähne von Wills weichem Haar zwischen Zeige- und Mittelfinger und hob die Schere, um das Stück abzuschneiden, das zwischen den Fingern hervorsah. Die Schere erstarrte in meiner Hand. Wie würden sie es machen? Würden sie ihm eine Spritze geben? Eine Pille? Oder würden sie ihn einfach in einem Zimmer mit einem Haufen Rasierklingen allein lassen?
«Sie sehen müde aus. Ich wollte nichts sagen, als Sie hereinkamen, aber … echt … Sie sehen schrecklich aus.»
«Oh.»
Auf welche Art unterstützten sie wohl jemanden dabei, der sich nicht bewegen konnte? Ich ertappte mich, wie ich auf seine Handgelenke hinabsah, die immer von langen Ärmeln verdeckt wurden. Wochenlang hatte ich geglaubt, das läge daran, dass er die Kälte stärker empfand. Noch so eine Lüge.
«Clark?»
«Ja?»
Ich war froh, dass ich hinter ihm stand. Ich wollte ihn nicht ansehen.
Er zögerte. Sein Nacken, über den vorher das lange Haar gehangen hatte, war sogar noch blasser als der Rest seiner Haut. Der Nacken wirkte weich und weiß und seltsam verletzlich.
«Hören Sie, es tut mir leid, wie sich meine Schwester benommen hat. Sie war … sie war ziemlich durcheinander, aber das gibt ihr noch nicht das Recht, so grob zu sein. Sie ist manchmal ein bisschen direkt. Dann merkt sie überhaupt nicht, wie ungerecht sie ist.» Er schwieg kurz. «Ich glaube, deswegen lebt sie auch in Australien.»
«Sie glauben, dort sagen sich die Leute die Wahrheit?»
«Wie bitte?»
«Ach nichts. Heben Sie bitte Ihren Kopf.»
Ich schnitt und kämmte, arbeitete mich systematisch um seinen Kopf herum, bis kein Haar mehr abstand und um die Reifen des Rollstuhls ein feiner Rieselteppich aus Haaren lag.
Gegen Abend bekam ich endlich Ordnung in meine Gedanken. Während Will mit seinem Vater vor dem Fernseher saß, nahm ich ein Blatt DIN-A4-Papier aus dem Drucker und einen Stift aus dem Becher auf dem Fensterbrett in der Küche und schrieb auf, was ich sagen wollte. Dann faltete ich das Blatt, suchte mir einen Umschlag, schrieb den Namen seiner Mutter darauf und ließ den Umschlag auf dem Küchentisch liegen.
Als ich abends ging, hörte ich, wie sich Will und sein Vater unterhielten. Will lachte sogar. Ich blieb im Flur stehen, die Tasche schon über die Schulter gehängt. Worüber lachte er? Was brachte jemanden zum Lachen, der sich in ein paar Monaten das Leben nehmen wollte?
«Ich bin weg», rief ich in Richtung der Wohnzimmertür und setzte mich in Bewegung.
«Hey, Clark …», fing er an, aber da zog ich schon die Haustür hinter mir zu.
Auf der kurzen Busfahrt überlegte ich, was ich meinen Eltern erzählen sollte. Sie würden toben, dass ich eine Stelle aufgegeben hatte, die sie für ideal und sehr gut bezahlt hielten. Nach dem ersten Schreck würde meine Mutter ihren gequälten Blick aufsetzen und anfangen, mich zu verteidigen, indem sie verkündete, dieser Job sei wirklich zu zermürbend für mich gewesen. Mein Vater würde vermutlich fragen, warum ich nicht ein bisschen mehr wie meine Schwester sein konnte. Das tat er oft, obwohl nicht ich diejenige war, die sich das Leben versaut hatte, indem sie schwanger wurde und nun auf die finanzielle Unterstützung und
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