Ein ganzes halbes Jahr
das überhaupt für einen Zweck gehabt?
Ich ließ mir das Gespräch, das ich mitgehört hatte, wieder und wieder durch den Kopf gehen. Ich versuchte, eine andere Deutung zu entdecken, versuchte, mich davon zu überzeugen, dass ich etwas missverstanden hatte. Aber zu Dignitas fuhr man nun einmal nicht zum Kurzurlaub. Ich wollte nicht glauben, dass Camilla Traynor ihrem Sohn so etwas antun konnte. Ja, ich hatte sie für gefühlskalt gehalten, und, ja, ich fand, dass sie unbeholfen mit ihm umging. Es war schwer vorstellbar, dass sie früher mit ihm herumgeschmust hatte so wie unsere Mutter mit uns – ständig und mit Begeisterung –, bis wir uns aus ihren Armen wanden und losgelassen werden wollten. Und wenn ich ehrlich sein soll, war Camilla Traynors Umgang mit ihrem Sohn genau so, wie ich ihn mir bei der Upperclass vorgestellt hatte. Ich hatte schließlich gerade Liebe unter kaltem Himmel gelesen. Aber das war etwas anderes, als aktiv und freiwillig eine Rolle beim Sterben des eigenen Sohnes zu spielen, oder?
Im Rückblick erschien mir ihr Verhalten noch kühler, ihre Handlungen von einem bösen Vorsatz bestimmt. Ich war wütend auf sie und wütend auf Will. Wütend, weil sie mich dazu gebracht hatten, mich unter falschen Voraussetzungen ins Zeug zu legen. Wütend wegen all der Momente, in denen ich darüber nachgedacht hatte, was ich tun könnte, damit es ihm besserging, damit er es bequemer hatte oder sogar ein bisschen glücklich war. Und wenn ich nicht wütend war, dann war ich traurig. Ich dachte daran, wie ihre Stimme beinahe gebrochen war, als sie versucht hatte, Georgina zu trösten, und ich hatte echtes Mitgefühl mit ihr. Sie war, und das wusste ich, in einer ausweglosen Situation.
Aber vor allem war ich vollkommen entsetzt. Der Gedanke an das, was ich jetzt wusste, verfolgte mich. Wie konnte man jeden Tag einfach so vor sich hin leben, während man wusste, dass man in absehbarer Zeit sterben würde? Wie konnte sich dieser Mann, dessen Haut ich noch am Vormittag unter meinen Fingern gespürt hatte – warm und lebendig –, dafür entscheiden, sich umzubringen? Wie konnte es sein, dass mit allseitigem Einverständnis diese Haut in sechs Monaten unter der Erde verwesen würde?
Ich konnte mit niemandem darüber reden. Das war beinahe das Schlimmste daran. Ich war nun eine Komplizin der Traynors. Schlaff und lustlos rief ich Patrick an, um ihm zu sagen, mir ginge es nicht gut und ich würde zu Hause bleiben. Kein Problem, er wolle eh noch einen Zehnmeilenlauf machen, sagte er, und sei ohnehin erst nach neun Uhr im Sportzentrum fertig. Wir würden uns dann am Samstag sehen. Er klang abgelenkt, als wäre er mit den Gedanken schon woanders, würde schon weiterrennen auf irgendeinem mythischen Pfad.
Ich wollte nichts essen. Ich lag im Bett, bis ich mich so in meine düsteren Gedanken verstrickt hatte, dass ich es nicht mehr aushielt, und um halb neun ging ich hinunter und setzte mich schweigend zu Großvater vor den Fernseher, denn Großvater war das einzige Familienmitglied, das mir garantiert keine Fragen stellen würde. Er saß in seinem Lieblingssessel und starrte mit klarem Blick auf den Bildschirm. Ich war nie sicher, ob er wirklich zuschaute oder mit den Gedanken ganz woanders war.
«Bist du sicher, dass du nichts essen willst, Liebes?» Mum tauchte mit einer Tasse Tee neben mir auf. In unserer Familie gab es angeblich nichts, was nicht durch eine Tasse Tee besser wurde.
«Nein. Keinen Hunger, danke.»
Ich sah den Blick, den sie Dad zuwarf. Später, wenn sie allein waren, würden sie darüber reden, dass mich die Traynors zu hart arbeiten ließen und mich die Versorgung dieses Schwerbehinderten zu stark belastete. Mir war klar, dass sie sich Vorwürfe machen würden, weil sie mich dazu ermutigt hatten, diesen Job anzunehmen.
Und in diesem Glauben musste ich sie bestärken.
Paradoxerweise war Will am nächsten Tag in guter Verfassung – ungewöhnlich gesprächig, rechthaberisch und streitlustig. Er redete vermutlich mehr als jemals zuvor, seit ich ihn kannte. Es war, als wollte er sich absichtlich mit mir zanken, und er war enttäuscht, als ich nicht mitspielte.
«Wann wollen Sie eigentlich Ihr Schreckenswerk zu Ende bringen?»
Ich hatte gerade das Wohnzimmer aufgeräumt und schüttelte die Sofakissen auf. Ich sah auf. «Wie bitte?»
«Meine Haare. Die sind erst zur Hälfte geschnitten. Ich sehe aus wie ein viktorianisches Waisenkind. Oder wie jemand aus der Irrenanstalt.» Er drehte den
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