Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom
gegeben hat. Es wird vielleicht gar nicht in Betracht ziehen, dass die eigene Mutter durch den Kommentar peinlich berührt sein oder dass die Frau den Kommentar als unhöflich und beleidigend wahrnehmen könnte. Andere Kinder würden sich einen solchen Kommentar verkneifen, weil sie wissen, was die Frau dann denken und fühlen würde.
Menschen mit Asperger-Syndrom fühlen sich dagegen eher der Wahrheit verpflichtet als den Gedanken und Gefühlen anderer.
Andere verpetzen
Ein weiteres solches Beispiel kann in der Schule passieren. Wenn ein Lehrer abgelenkt ist, kann ein Kind etwas Verbotenes tun. Wenn der Lehrer dann sieht, was passiert ist, aber nicht, wer es getan hat, dann kann er den Schuldigen bitten, dass er gesteht. Die anderen Kinder werden wissen, wer es war, es aber nicht sagen, weil sie es nicht »petzen« wollen. Das Kind mit Asperger-Syndrom dagegen sieht sich eher der Wahrheit als der sozialen Gruppe verpflichtet. Es antwortet also auf die Frage des Lehrers mit der korrekten Antwort, ist dann aber darüber irritiert, dass die anderen Kinder ärgerlich reagieren, insbesondere darüber, dass das auch die Kinder tun, die selbst unschuldig sind.
Lügen tauchen erst später auf als bei anderen Kindern
Die Fähigkeit zu verstehen, wann es besser ist, die Unwahrheit zu sagen, taucht beim Kind mit Asperger-Syndrom deutlich später auf; manchmal erst, wenn es zehn Jahre oder älter ist. Die Eltern und Lehrer erleben dann ein Kind, das bis dahin ehrlich war (auch zu seinem eigenen Schaden) und das nun erkennt, dass es negativen Konsequenzen entgehen kann, wenn es andere täuscht. Da es aber keine Erfahrung in Täuschungsmanövern hat, kann es oft leicht von einem Erwachsenen erwischt werden.
Wenn das Kind lügt, suchen Freunde und Familie nach den Gründen dafür. Zunächst wird das Kind aufgrund seiner beeinträchtigten ToM-Fähigkeiten vielleicht gar nicht erkennen, dass ein anderer durch eine Lüge eher verletzt sein könnte als durch ein anderes Fehlverhalten, das mit der Lüge verdeckt werden soll. Stattdessen sieht das Kind, dass die Lüge eine Möglichkeit sein kann, Konsequenzen zu vermeiden oder ein soziales Problem zu lösen. Was dagegen weniger der Fall sein wird, ist, dass das Kind eine Lüge als Mittel ansieht, das eigene Selbstbewusstsein zu stärken, wenn es von Natur aus überheblich ist und eigene Fehler nicht anerkennen will.
Strenge Einhaltung von Regeln und Prinzipien
Erwachsene mit Asperger-Syndrom können für besondere Ehrlichkeit, ein starkes Gefühl für soziale Gerechtigkeit und das Einhalten von Regeln bekannt sein. Sie sind dann stark von ethischen Prinzipien überzeugt. Das ist im Prinzip sehr nobel, kann aber zum Problem werden, wenn der Arbeitgeber diese Ideale nicht teilt. Unter den Personen, die Missstände aufdecken, sind sicherlich auch zahlreiche Menschen mit Asperger-Syndrom. So habe ich auch selbst schon mehrere von ihnen kennengelernt, die Diskrepanzen zwischen gesetzlichen Vorgaben und unternehmensinternen Richtlinien auf der einen und der Arbeitspraxis auf der anderen Seite wahrgenommen haben und dann über Fehlverhalten und Korruption berichtet haben. Sie sind dann überrascht, dass sie kaum Unterstützung durch Vorgesetzte oder Kollegen finden. Das kann zu Desillusionierung und Depressionen führen.
Das Gefühl, dass alle Böses wollen
Eine der Auswirkungen von beeinträchtigten ToM-Fähigkeiten bei einem Menschen mit Asperger-Syndrom ist, dass er Schwierigkeiten hat, zwischen beabsichtigten und unbeabsichtigten Handlungen eines anderen zu unterscheiden. Die scheinbare Paranoia, die man bei einigen Kindern mit Asperger-Syndrom beobachtet kann, vorsorglich jedem eine böse Absicht zu unterstellen, kann auf der realen Erfahrung beruhen, dass sie viel stärker als andere geärgert werden. Wenn sie einmal erlebt haben, dass andere Kinder sich feindselig ihnen gegenüber verhalten haben, dann werden sie durch jede weitere Handlung verwirrt sein, weil sie eher annehmen, dass böse Absicht dahintersteckt, während andere Kinder den Kontext und die sozialen Hinweise im Einzelfall berücksichtigen können.
Dass andere helfen könnten, wird oft nicht erkannt
Normale Kinder erkennen oft recht früh, dass ihnen jemand anderer bei der Lösung eines Problems helfen kann oder dass andere gerne helfen wollen. Diese Einsicht in die Gedanken und Fähigkeiten anderer ist bei Kindern mit A sperger-Syndrom so nicht vorhanden. Wenn sie mit einem Problem konfrontiert sind, denken sie
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