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Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom

Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom

Titel: Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tony Attwood
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denken oder fühlen, so ist es doch ungleich schwerer, sich auszumalen, wie sich das für so eine Person im Alltag darstellt, da normale Menschen die Gedanken anderer sehr einfach und intuitiv erkennen können. Wir können in einem Gesicht »lesen« und die Bedeutung von Körpersprache oder von Tonlagen übersetzen. Wir erkennen auch Hinweise aus dem Kontext, die anzeigen, was andere gerade denken oder was sie denken werden. Es folgen einige Bereiche des Alltagslebens von Kindern und Erwachsenen mit Asperger-Syndrom, die durch beeinträchtigte oder verzögerte ToM-Fähigkeiten in Mitleidenschaft gezogen werden.
Der Gesichtsausdruck wird nicht verstanden
    Woher wissen wir, was eine andere Person denkt oder fühlt? Eine Möglichkeit ist unsere Fähigkeit, im Gesicht des Gegenübers zu lesen, insbesondere im Bereich rund um die Augen. Wir wissen schon seit Längerem, dass autistische Kinder und Erwachsene weniger Augenkontakt halten, als man erwarten würde und dass sie dem Gegenüber weniger häufig ins Gesicht schauen und daher eine Veränderung des Gesichtsausdrucks verpassen.
    Beim Anschauen von Menschen geht es nicht nur darum, festzustellen, wo man ist und ob man sich bewegt hat. Wir schauen jemandem ins Gesicht, um den Gesichtsausdruck des Gegenübers zu erfassen und um zu bestimmen, was jemand denkt oder fühlt. Wenn Menschen mit Asperger-Syndrom jemandem ins Gesicht schauen, wo genau sehen sie hin?
Die Augen als »Fenster zur Seele«
    Die meisten normalen Menschen konzentrieren sich auf die Augen, um die Gedanken und Gefühle des Gegenübers zu erkennen. Die Augen werden als »Fenster zur Seele« betrachtet. Mit der »Eye-tracking-Technik« lässt sich die Blickrichtung genau bestimmen. Die jüngste Forschung deutet darauf hin, dass Erwachsene mit Asperger-Syndrom weniger auf die Augen und mehr auf den Mund, den Körper oder auf Gegenstände schauen als Personen aus der Kontrollgruppe. 10 In diesen ausgeklügelten Untersuchungen wurde bestimmt, wohin jemand schaut, wenn er eine Interaktion zwischen Schauspielern in einem Film beobachtet. In einer Szene, in der die Personen der Kontrollgruppe auf die angsterfüllten und überraschten, weit geöffneten Augen des Schauspielers schauten, konzentrierten sich die Personen mit Asperger-Syndrom oder High-Functioning-Autismus auf den Mund des Schauspielers.Die Untersuchung zeigt, dass die Personen der Kontrollgruppe zweimal so häufig auf die Augenpartie schauten wie die Personen mit Asperger-Syndrom oder High-Functioning-Autismus. Wenn eine Person auf den Mund des Gegenübers achtet, kann das dabei helfen, die sprachliche Kommunikation besser zu erfassen, aber ihr wird die Information entgehen, die über die Augenpartie oder das Gesicht vermittelt wird.
    In anderen Untersuchungen wurde gezeigt, dass, wenn die Person mit Asperger-Syndrom einem anderen in die Augen schaut, sie die Bedeutung des Ausdrucks weniger gut erkennt als Personen aus der Kontrollgruppe. 11 Ein Zitat von einer Person mit Asperger-Syndrom bestätigt die Schwierigkeiten beim Erkennen von Botschaften, die über die Augenpartie oder das Gesicht vermittelt werden: »Die Leute geben sich untereinander Botschaften mit ihren Augen, aber ich weiß nicht, was sie sich sagen.« 12
Menschen mit Asperger-Syndrom haben zwei Probleme, wenn es darum geht, Informationen der Augen zu benutzen, um zu bestimmen, was jemand denkt und fühlt.
Zum einen schauen sie oft nicht auf die Augen als vorrangige Informationsquelle im Hinblick auf soziale und emotionale Kommunikation.
Zum anderen sind sie, wenn sie den Blick in die Augen wagen, auch nicht besonders gut darin, den Ausdruck des Gegenübers zu entschlüsseln.
Dinge wörtlich verstehen
    Eine der Auswirkungen beeinträchtigter oder verzögerter ToM-Fähigkeiten besteht in der Neigung, Dinge wörtlich zu verstehen. Mir ist aufgefallen, dass Kinder mit Asperger-Syndrom es wörtlich nehmen, wenn gesagt wird: »In der Stadt werden abends die Bürgersteige hochgeklappt«, »aus einer Maus einen Elefanten machen«, »er kann ihm nicht das Wasser reichen.«
    Es gibt Hinweise, dass es Menschen mit Asperger-Syndrom schwerfällt, die Bedeutung einer bestimmten Stimmlage, also die Prosodie, zu erfassen 13 – eine Fähigkeit, die es anderen Menschen ermöglicht, über das rein wörtliche Verständnis hinauszugehen. Wir erkennen, wenn der Gesichtsausdruck nicht mit dem Ton und dem Kontext einer Aussage übereinstimmt und begreifen dann, dass jemand etwas zum Beispiel sarkastisch

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