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Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom

Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom

Titel: Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tony Attwood
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anderen (insbesondere über die eigenen Gefühle und Erlebnisse) und versucht, die Depression durch Grübeln zu lösen.
    Normalen Menschen fällt es leichter, ihre Gefühle zu offenbaren und sie wissen, dass eine andere Person mit einer etwas objektiveren Meinung helfen und als emotionale Stütze agieren kann. Die Familie und die Freunde von normalen Personen sind oft in der Lage, die Stimmung zeitweise zu stabilisieren oder zu verbessern, indem sie Worte und Gesten des Trostes und der Anteilnahme anbieten. Sie können die depressive Person ablenken, indem sie für positive Erlebnisse sorgen oder indem sie ihren Humor einsetzen. Diese emotionalen Rettungsstrategien erweisen sich allerdings bei Menschen mit Asperger-Syndrom als weniger effektiv, die ihre persönlichen und praktischen Probleme lieber allein lösen.
Auf Veränderungen des Spezialinteresses achten
    Die Symptome der Depression können dieselben sein, wie man sie von normalen Kindern und Erwachsenen kennt. Jedoch ist den Asperger-Fachkräften ein weiteres Symptom aufgefallen, das auf eine Depression hinweisen kann. Das Spezialinteresse beschäftigt sich oft mit einem Thema, das diesem Menschen Freude bereitet und das oft mit der Erkenntnis der physischen und weniger der sozialen Welt zusammenhängt (siehe Kapitel 7). Wenn eine solche Person jedoch depressiv wird, kann sich das Interesse einem morbiden Thema zuwenden und sie beschäftigt sich öfter mit Aspekten des Todes.
    Manchmal kann dieser Wechsel der Interessen unverständlich erscheinen, doch versucht das Kind damit mitzuteilen, dass es verwirrt, traurig und unsicher darüber ist, was es tun soll. In ihrem Buch über Autismus und Asperger-Syndrom beschreibt Pat Howlin Joshua, dessen Vater Kameramann im Kriegseinsatz war. Ihr Vater war für einige Tage vermisst und die Familie machte sich große Sorgen. Joshua begann daraufhin, seine Mutter über die Waffen auszufragen, die in dem Krieg zum Einsatz kamen, sowie darüber, wie viele Menschen in dem Krieg getötet wurden. In dieser Zeit hat Joshua nicht erkennen lassen, dass ersich Sorgen machte oder dass er Trost bei der übrigen Familie suchte. Als sein Vater zurückkehrte, fragte Joshua ihn, wie viele Leichen er fotografiert habe. Als man ihn wegen seines offenbaren Mangels an Sorge und Mitgefühls fragte, antwortete Joshua, dass er sehr wohl gesehen habe, dass die Mutter und die Schwester aufgeregt waren, aber dass er sie nicht trösten konnte, da er ja nicht genau wusste, was mit seinem Vater passiert war und er in diesem Punkt nicht lügen wollte. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Seine morbiden Fragen und Interessen waren eine Art »Hilferuf« und sie waren seine Art und Weise, um seine eigenen Gefühle mitzuteilen und zu verstehen. 34
Eltern und Fachkräfte sollten also über das Spezialinteresse an sich hinaussehen und an eine affektive Störung (Angst oder Depression) denken, die nur auf eine besonders unkonventionelle Art und Weise ausgedrückt wird; eine Art und Weise, wie sie bei jemandem zu erwarten ist, der Probleme damit hat, Gefühle zu verstehen und auszudrücken.
Selbstmordgedanken und -versuche
    Einige Menschen mit Asperger-Syndrom, die klinisch depressiv sind, ziehen Selbstmord als mögliche Lösung in Betracht, um den Schmerz und die Verzweiflung zu beenden. Die Person überlegt dann oft über Tage oder Wochen sehr genau, wie sie dabei vorgehen soll. Einige Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom überkommt dagegen manchmal der Selbstmordwunsch als eine Art plötzliche Attacke, sodass es sich hier eher um eine spontane Entscheidung handelt, seinem Leben ein dramatisches Ende zu setzen. Liliana, eine Erwachsene mit Asperger-Syndrom, nennt die intensive Depression, die sie durchlebt hat, eine »Seelenmigräne«. Wir kennen Panikattacken bei normalen Menschen, wo sie schnell und ohne Vorwarnung auftreten können; die Person erlebt dann ein plötzliches und überwältigendes Gefühl der Angst. Auch beim Menschen mit Asperger-Syndrom kann es zu einer solchen depressiven Attacke kommen, bei der er einen impulsiven, dramatischen Selbstmordversuch unternimmt. Das Kind kann plötzlich vor ein fahrendes Auto rennen oder von einer Brücke springen. Diejenigen, die zuvor das Kind begleitet haben, haben vielleicht nicht einmal gemerkt, dass es depressive Gedanken hatte, doch kann bereits ein kleiner Auslöser, etwa, dass das Kind geärgert wurde oder dass es einen Fehler gemacht hat, eine intensive emotionale Reaktion auslösen.

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