Ein Garten im Winter
gewann an Substanz wie die Äpfel ihrer Plantage. Ihr kam es fast unglaublich vor, dass etwas, was sie ihr ganzes Leben gehört und für bedeutungslos gehalten hatte, plötzlich an Wert gewann: So als hätte man entdeckt, dass ein Bild über dem eigenen Kamin in Wahrheit ein früher van Gogh war.
Aber es stimmte: Sie hatte die Worte jahrelang gehört und einfach hingenommen, nie hinterfragt, nie zu ergründen versucht. Vielleicht gingen alle Kinder so mit Familiengeschichten um. Je öfter man etwas hörte, desto seltener überprüfte man es auf den Wahrheitsgehalt.
Sie schob die Berichte beiseite und setzte sich vor ihren Computer. In der nächsten Stunde googelte sie wahllos Stichwörter: Leningrad, Stalin, Vera, Olga ( hätte sie nach russischen Katalogfrauen gesucht, hätte sie nur Volltreffer gelandet), Fontanka-Brücke, Großer Terror, bronzenes Reiterstandbild. Zwar kam nichts Entscheidendes dabei heraus, aber es wurde immer klarer, dass der Hintergrund des Märchens in weiten Teilen real war.
Sie fand eine lange Liste von Wassili Adamowitschs Publikationen. Er hatte über fast jeden Aspekt des Lebens in Russland und der Sowjetunion veröffentlicht, von den Anfängen der Oktoberrevolution, über den Mord an den Romanows und den Aufstieg Stalins und seine Schreckensherrschaft bis zu Hitlers Überfall auf die Sowjetunion und der Tragödie in Tschernobyl. Er hatte alles erforscht, was den Russen im zwanzigsten Jahrhundert widerfahren war.
»Sehr hilfreich«, murmelte Meredith und klopfte mit dem Stift auf den Schreibtisch. Als sie Emeritierung zu seinem Namen ins Suchfeld gab, erschien unerwarteterweise ein Link zu einem Zeitungsartikel.
Dr. Wassili Adamowitsch, ehemaliger Professor für Russische Studien an der Universität von Alaska in Anchorage, erlitt gestern in seinem Haus in Juneau einen Herzinfarkt. Dr. Adamowitsch ist in akademischen Kreisen bekannt für seine zahlreichen Publikationen, doch Freunde schätzen ihn als Gärtner und Erzähler von Gruselgeschichten. Er zog sich 1989 von seiner Lehrtätigkeit zurück und arbeitete ehrenamtlich in der Bücherei seiner Gemeinde. Momentan erholt er sich in einem Krankenhaus in Juneau.
Meredith griff zum Telefon und gab die Nummer der Auskunft ein. Ihr wurde erklärt, dass es keinen Eintrag für Wassili Adamowitsch in Juneau gab. Enttäuscht fragte Meredith nach der Telefonnummer der Bücherei.
»Da gibt es mehrere, Ma’am.«
»Dann geben Sie sie mir bitte alle«, bat Meredith und notierte sich jede einzelne.
Beim vierten Anruf hatte sie Glück. »Hallo«, sagte sie. »Ich versuche, einen gewissen Dr. Wassili Adamowitsch ausfindig zu machen.«
»Ach, Wassja«, antwortete eine Frau. »Es ist leider schon länger her, dass sich jemand nach ihm erkundigt hat.«
»Aber dies ist doch die Bücherei, in der er gearbeitet hat, oder?«
»Ja, etliche Jahre, zweimal die Woche. Die Kinder von der Highschool haben ihn geliebt.«
»Ich versuche, ihn zu erreichen.«
»Das Letzte, was ich von ihm hörte, war, dass er in einem Pflegeheim ist.«
»Wissen Sie, in welchem?«
»Nein, tut mir leid. Aber … sind Sie eine Freundin von Wassja?«
»Meine Mutter. Allerdings hat sie schon lange nicht mehr mit ihm gesprochen.«
»Wissen Sie, dass er einen Herzinfarkt hatte?«
»Ja.«
»Ich habe gehört, dass es ihm ziemlich schlecht geht und er nur mit Mühe sprechen kann.«
»Ach so. Trotzdem: vielen Dank für Ihre Hilfe.« Meredith legte auf.
Eine Sekunde später betrat Daisy ihr Büro.
»Wir haben ein Problem im Lager. Nichts Dringendes, aber Hector hat gefragt, ob du heute irgendwann mal vorbeischauen könntest. Wenn du keine Zeit hast, könnte ich das für dich übernehmen.«
»Ja«, sagte Meredith, ohne aufzublicken. »Mach das doch.«
»Und dann fliege ich nach Tahiti.«
»Alles klar.«
»Auf Kosten der Firma.«
»Mhm. Danke, Daisy.«
Daisy marschierte zu Meredith, nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz und verschränkte die Arme. »Jetzt reicht es. Spuck’s aus.«
Verblüfft sah Meredith auf. Was hatte Daisy gesagt? »Was?«
»Ich hab dir gerade verkündet, dass ich auf Kosten der Firma nach Tahiti fliege.«
Meredith lachte. »Damit willst du wohl sagen, ich hätte nicht zugehört.«
»Was ist los?«
Meredith fiel ein, dass Daisy schon eine Ewigkeit bei den Whitsons war. »Wann hast du eigentlich meine Mom kennengelernt?«
Daisys gezupfte Augenbrauen hoben sich überrascht. »Tja, lass mich nachdenken. Ich schätze, ich war damals zehn,
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