Ein Garten im Winter
doch sein. Es ist typisch für Mom, eine Geschichte so zu erzählen, dass wir über sie nichts erfahren. Wie sollen wir es also herausfinden?«
»Wir ermuntern sie, weiterzuerzählen. Und ich durchsuche das Haus von oben bis unten. Wenn es etwas zu finden gibt, finde ich es.«
»Danke, Mere«, sagte Nina. »Ich finde es schön, dass wir das zusammen machen.«
An diesem Abend bemühte sich Nina beim Essen, ganz normal zu erscheinen. Sie trank ihren Wodka, aß ihr Essen und betrieb Konversation, aber die ganze Zeit beobachtete sie ihre Mutter und dachte: Wer bist du? Sie musste sich beherrschen, diese Frage nicht laut auszusprechen. Als Journalistin wusste sie, dass es vor allem auf das richtige Timing ankam und man niemals eine Frage stellte, bevor man eine ziemlich deutliche Vorstellung von der Antwort hatte. Sie bemerkte, dass Meredith den gleichen inneren Kampf ausfocht.
Als die Mutter nach dem Essen schließlich aufstand und sagte: »Heute Abend bin ich zu müde zum Geschichtenerzählen«, war Nina fast erleichtert.
Sie half ihrer Schwester beim Abwasch (bei dem Meredith zugegebenermaßen den größeren Teil erledigte), gab ihr zum Abschied einen Kuss und ging ins Arbeitszimmer, um ihre Internet-Recherche fortzusetzen. Sie las sich alles über die zwanziger und dreißiger Jahre in Leningrad durch, was sie finden konnte. Sie bekam eine Menge Informationen, aber keine richtigen Antworten.
Um zwei Uhr morgens schließlich stand sie entnervt vom Schreibtisch auf. Sie hatte Seiten um Seiten Informationen gelesen, aber keine greifbaren Fakten außer denen erhalten, die sie ohnehin schon wusste. Die Geschichte fand zur Stalinzeit in Leningrad statt.
Ungeduldig klopfte sie mit ihrem Stift auf den Tisch und zählte laut auf, was sie wusste. Und dann noch einmal. Dabei blickte sie auf ihre Notizen.
Der Brief des Professors lugte unter ihrem Schreibblock hervor. Sie nahm ihn und las ihn noch einmal genau durch. Leningrad. Forschungsarbeit. Mitarbeit. Verständnis.
Ihre Mutter wusste etwas, hatte etwas gesehen oder erlebt, das bedeutend genug für das Forschungsprojekt eines Professors war.
Aber was?
War es der Große Terror? Stalins Diktatur? Oder war sie vielleicht eine Primaballerina gewesen …
»Schluss jetzt«, sagte Nina laut zu sich.
Ihr Herz klopfte heftig, als sie nach dem Ordner mit der Aufschrift Eãîa Nãóîcáìa griff. Konnte es sich bei der Aufschrift um einen Vor- und einen Nachnamen handeln?
Sie rief im Internet das russische Alphabet auf und verglich die Buchstaben.
Eãîa war also Vera.
Vera.
Dann transkribierte sie den Rest der Buchstaben.
Nãóîcáìa
Petrowna.
Nach kurzer Recherche wusste sie alles über den Aufbau russischer Namen. Zuerst kam der Vorname, dann der Name des Vaters – mit einer männlichen oder weiblichen Endung – und dann der Nachname. Die Aufschrift des Ordners zeigte nur zwei Namen – owna war das Suffix für eine Tochter. Vera Petrowna hieß wörtlich übersetzt: Vera, Tochter von Pjotr .
Nina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und spürte, wie Adrenalin sie durchströmte – wie immer, wenn sie zum Kern einer Story kam. Vera war eine reale Person. Real genug, um einen Ordner mit ihrem Namen anzulegen, und wichtig genug, um diesen Ordner zwanzig Jahre lang aufzubewahren.
Damit war die Antwort auf die große Frage nach Moms Identität noch nicht gefunden. Leider konnte man ohne Nachnamen auch nichts mehr im Internet herausfinden. Möglicherweise handelte die Forschungsarbeit von Vera Petrowna, und vielleicht hatte ihre Mom etwas über sie gewusst. Natürlich konnte sie selbst auch Vera sein. Oder Olga. Das würde Nina auf andere Weise herausfinden müssen.
Dieser Wassili Adamowitsch – Wassili Adams Sohn – kannte die Verbindung zwischen ihrer Mutter und Vera, und diese Verbindung war wichtig genug für eine Forschungsarbeit.
Das brachte Nina auf eine Idee.
Siebzehn
Um fünf Uhr siebenundvierzig joggte Meredith los. Die Hunde rannten neben ihr her und wetteiferten um ihre Aufmerksamkeit.
Um acht Uhr war sie auf der Plantage und schritt die Reihen mit ihrem Vorarbeiter ab, um die ersten Fortschritte der neuen Ernte zu überprüfen, Frostschäden zu begutachten und sich anzusehen, wie die Äpfel von Hand eingewickelt wurden. Gegen zehn war sie an ihrem Schreibtisch und prüfte Zielvorgaben für die Ernte.
Aber eigentlich dachte sie die ganze Zeit an das Märchen.
Ich frag sie einfach, ob sie Vera ist.
Diese Idee keimte, blühte, wuchs und
Weitere Kostenlose Bücher