Ein Garten im Winter
Brief von Professor Adamowitsch gelesen hatte, setzte sie sich an den Computer. Der einzige Link im Internet verwies sie auf die Website der Universität von Alaska.
Sie griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Es brauchte mehrere Anläufe, aber schließlich erreichte sie die Fakultät für Russische Studien, wo sich eine Frau mit ausgeprägtem Akzent meldete. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Das hoffe ich«, antwortete Meredith. »Ich suche nach Professor Wassili Adamowitsch.«
»Ach, du meine Güte«, sagte die Frau. »Diesen Namen habe ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört. Dr. Adamowitsch ist vor zwölf Jahren emeritiert. Aber er hatte bereits mehrere verdiente Nachfolger, und ich würde Sie sehr gerne mit einem von ihnen verbinden.«
»Eigentlich möchte ich nur mit Dr. Adamowitsch sprechen. Ich habe ein paar Fragen zu einer seiner Forschungsarbeiten.«
»Tja, dann kann ich Ihnen wohl nicht helfen.«
»Wie könnte ich den Professor denn direkt erreichen?«
»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Dann danke ich Ihnen«, erwiderte Meredith enttäuscht. Sie legte auf und ging zum Fenster des Arbeitszimmers. Von hier aus konnte sie eine Ecke des Wintergartens sehen. Trotz des milden Abends war die Bank leer, doch noch während Meredith am Fenster stand, durchquerte ihre Mutter den Garten. Sie hatte eine Decke umgehängt, deren Zipfel über den Rasen schleiften. Als sie den Wintergarten erreicht hatte, berührte sie kurz jede der beiden Kupfersäulen, dann setzte sie sich und holte ihr Strickzeug aus ihrer Tasche.
Von ihrem Beobachtungsposten aus konnte Meredith sehen, dass sie mit eingesunkenen Schultern dasaß und das Kinn auf die Brust gesenkt hatte. Es mochte sie Kraft kosten, vor ihren Kindern immer in perfekter Haltung zu stehen und zu sitzen, doch hier war nichts davon zu sehen. Es wirkte, als spräche sie mit sich selbst oder mit den Blumen oder … mit ihrem Mann. Hatte sie immer allein dagesessen, um zu reden, oder war das neu: eine weitere Nebenwirkung ihres Verlusts?
»Sitzt sie schon wieder da draußen?«, fragte Nina, die ins Arbeitszimmer kam. Ihr Haar war nass, und sie trug einen übergroßen Frotteebademantel und Schaffell-Pantoffeln.
»Na klar.« Meredith nahm den Brief und gab ihn Nina. »Ich hab in der Universität angerufen. Der Professor ist im Ruhestand und die Frau, mit der ich gesprochen habe, konnte mir auch nicht mehr sagen.«
Nina las den Brief. »Zumindest wissen wir jetzt sicher, dass Mom eine Verbindung zu Leningrad hatte, dass das Märchen da stattfindet und wenigstens Teile davon wirklich wahr sind. Also frage ich mich: Ist Mom Vera?«
Das war die entscheidende Frage. »Wenn Mom wirklich Vera ist, wurde sie mit siebzehn schwanger. Dann hatte sie entweder eine Fehlgeburt oder …«
»Wir haben irgendwo eine Schwester oder einen Bruder.«
Meredith starrte aus dem Fenster zu der Frau, die immer so allein war. War es wirklich möglich, dass sie irgendwo noch andere Kinder und wahrscheinlich auch Enkel hatte? War es möglich, dass sie sie verlassen und nie wiedergesehen hatte?
Nein. Nicht mal Anja Whitson war derart herzlos.
Meredith hatte nach der Geburt ihrer Töchter noch zwei Fehlgeburten im späten Stadium gehabt. Es war entsetzlich gewesen, mit dem Verlust zurechtzukommen. Eine Zeitlang war sie zu einer Therapeutin gegangen, und sie hatte mit Jeff gesprochen, bis ihr klarwurde, dass es ihm zu weh tat, ihr zuzuhören. Am Ende hatte sie niemanden gehabt – weder einen Freund noch ein Familienmitglied –, dem sie sich hätte anvertrauen können. Jedes Mal, wenn sie nur ansatzweise davon sprach, wollten die anderen sofort, dass sie sich »professionelle Hilfe« suchte. Sie verstanden nicht, dass sie einfach nur an ihre Jungen denken wollte.
Nur mit einem Menschen hatte sie niemals darüber gesprochen: mit ihrer Mutter.
Es war unmöglich, dass eine Frau, die selbst ein Kind verloren hatte – geboren oder ungeboren –, eine andere Frau unter einem ähnlichen Verlust leiden sah, ohne ein Wort zu sagen. »Ich glaube das nicht«, sagte sie schließlich. »Außerdem kann Vera Farben sehen.« Meredith hatte schon als Kind den Geburtsdefekt ihrer Mutter im Lexikon nachgeschlagen. Man nannte ihn Achromatopsie, und eins war sicher: Ihre Mutter hatte noch nie einen lavendelfarbenen Himmel gesehen. »Vielleicht ist Mom Olga.«
»Vielleicht ist Vera auch Moms Mutter. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber da wir nicht wissen, wie alt sie ist, könnte es
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