Ein Garten im Winter
schmalen Spalt sehen konnte, kehrte dann zur Kommode zurück und zog die oberste Schublade auf. Darin lagen drei ordentlich gefaltete Stapel Unterwäsche: weiße, graue, schwarze. Die Strümpfe waren ebenfalls nach diesen Farben geordnet. Ein paar BHs lagen in der Ecke. Sie strich mit den Fingern darüber und tastete vorsichtig über das glatte Holz des Schubladenbodens. Schuldbewusst verzog sie das Gesicht, ging aber auch die zweite und dritte Schublade mit ordentlich gefalteten Pullovern und T-Shirts durch. Dann kniete sie sich hin und zog die unterste Schublade auf. Darin fand sie Schlafanzüge, Nachthemden und einen altmodischen Badeanzug.
Sonst nichts. Etwas Persönlicheres außer der Unterwäsche verbarg sich hier nicht.
Enttäuscht und leicht verlegen schob sie die Schublade wieder zu. Seufzend stand sie auf und blickte dann auf die Kleider. Es herrschte makellose Ordnung. Alles befand sich dort, wo es hingehörte. Das einzig Außergewöhnliche war ein saphirblauer Wollmantel, der in der hintersten Ecke des Kleiderschranks hing.
Meredith erinnerte sich an den Mantel. Ihre Mutter hatte ihn einmal getragen – zu einer Nussknacker- Aufführung, als Nina und sie noch klein waren. Ihr Dad hatte darauf bestanden. Er hatte sie herumgewirbelt, sie geküsst und gesagt: »Komm schon, Anja, nur dieses eine Mal …«
Sie zog ihn heraus. Der Mantel war aus leuchtend blauem Kaschmir und im klassischen Stil der vierziger Jahre geschnitten: breite Schultern, schmale Taille, weite Ärmel mit Manschetten. Raffiniert geschnitzte Bakelitknöpfe vom Kragen bis zur Taille. Meredith zog ihn an; das Seidenfutter war unglaublich weich. Erstaunlicherweise passte ihr der Mantel ziemlich gut. Plötzlich konnte sie sich ihre Mutter als junge Frau vorstellen, die sich am weichen Kaschmir erfreut hatte. Aber sie hatte sich nicht daran erfreut, sie hatte den Mantel kaum angezogen. Andererseits, dachte Meredith, hatte sie ihn auch nicht aussortiert, und das war für eine Frau, die so wenig Persönliches aufbewahrte, ziemlich erstaunlich. Es sei denn, sie hatte die Gefühle ihres Mannes nicht verletzen wollen. Der Mantel war bestimmt teuer gewesen.
Sie steckte die Hände in die Taschen und drehte sich vor dem großen Spiegel auf der Innenseite der Tür, um sich zu betrachten.
Da spürte sie, dass etwas ins Futter der Tasche eingenäht war.
Sie tastete nach dem ausgefransten Rand des Geheimverstecks und fummelte so lange dran herum, bis sie schließlich ein zerknittertes, undeutliches Schwarzweißfoto von zwei Kindern herausziehen konnte.
Meredith starrte darauf. Das Bild war leicht verschwommen, und das Papier war so zerknittert und mitgenommen, dass man alles nur undeutlich sah, aber es waren eindeutig zwei drei- bis vierjährige Kinder, die einander an der Hand hielten. Zuerst dachte sie, das seien Nina und sie, doch dann bemerkte sie, wie altmodisch die Mäntel und Stiefel der Kinder waren. Sie drehte das Foto um und sah, dass etwas auf der Rückseite geschrieben stand. Auf Russisch.
»Meredith!«
Schuldbewusst zuckte sie zusammen, bevor ihr klarwurde, dass es Nina war, die wie ein Elefant die Treppe heraufstampfte.
Meredith öffnete die Tür zum begehbaren Schrank. »Ich bin hier, Nina.«
In ihren Khakisachen und den Wanderstiefeln sah Nina aus, als wollte sie auf eine Safari. »Ach, da bist du. Ich hab dich ges–«
Meredith packte sie am Arm und zog sie in den Schrank. »Ist Mom noch in der Küche?«
»Ja, sie bäckt genug Brot, um die Dritte Welt zu versorgen. Wieso?«
»Guck mal, was ich gefunden habe«, sagte Meredith und zeigte ihr das Foto.
»Hast du etwa herumgeschnüffelt? Braves Mädchen. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Jetzt guck doch mal.«
Nina nahm das Bild, starrte es lange an und drehte es dann um. Nach einem raschen Blick auf das Wort drehte sie es wieder um. »Vera und Olga?«
Merediths Herz setzte einen Schlag aus. »Meinst du?«
»Ich kann nicht erkennen, ob es Mädchen oder Jungen sind. Aber dieses hier sieht irgendwie aus wie Mom.«
»Im Ernst? Ich weiß nicht. Was machen wir damit?«
Nina dachte nach. »Erst mal lassen wir es hier. Irgendwann holen wir es und fragen Mom danach.«
»Dann weiß sie, dass ich in ihren Sachen herumgeschnüffelt habe.«
»Nein, sie wird annehmen, dass ich es war. Schließlich bin ich Journalistin, schon vergessen? Da gehört Schnüffeln zum Geschäft.«
»Außerdem hab ich von Daisy erfahren, dass Mom krank war, als sie Dad heiratete. Man dachte,
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