Ein Garten im Winter
aus dem Bett und klettert zu Vera ins Bett, auf Saschas Seite, zieht sie in ihre Arme und streicht ihr über die Haare wie früher, als Vera noch ein Kind war. »Wir Frauen denken immer nur an andere, nicht an uns selbst, und wenn wie Mütter sind, tun wir für unsere Kinder alles, was nötig ist. Du wirst sie beschützen. Das wird dir weh tun und ihnen auch. Aber deine Aufgabe ist es, zu verheimlichen, dass dir das Herz bricht, und das Notwendige zu tun, um sie zu schützen.«
»Sascha hat gesagt, ich müsste stark sein.«
Die Mutter nickt. »Trotzdem glaube ich nicht, dass Männer das verstehen. Nicht mal dein Sascha. Sie marschieren mit ihren Ideen und ihren Waffen davon und halten das für Mut.«
»Jetzt sprichst du von Papa.«
»Vielleicht.«
Eine Weile liegen sie schweigend da.
Zum ersten Mal seit langer Zeit denkt Vera an ihren Vater. Sosehr es auch weh tut, ist es doch immer noch besser, als an das zu denken, was ihr bevorsteht. Sie schließt die Augen und steht plötzlich wieder auf der Straße vor ihrer alten Wohnung und sieht zu, wie ihr Papa aufbricht.
Ihre Finger sind eiskalt, trotz der Wollhandschuhe, und ihre Zehen schmerzen schon vor lauter Kälte.
»Ich möchte mit dir ins Café«, bettelt sie und sieht zu ihm auf. Um sie herum fällt sacht der Schnee. Die Flocken landen auf ihren Wangen.
Er sieht lächelnd zu ihr herunter, sein buschiger schwarzer Schnurrbart hängt ihm über den Lippen. »Du weißt doch, dass ein Mädchen da nichts zu suchen hat, Veruschka.«
»Aber du wirst aus deinen Gedichten vorlesen. Anna Achmatowa wird auch da sein. Und sie ist eine Frau.«
»Ja«, sagt er und versucht, streng zu blicken. »Eine Frau. Aber du bist noch ein Mädchen. Eines Tages«, fährt er fort und drückt ihr mit seiner behandschuhten Hand die Schulter, »wirst du selbst wunderschöne Worte schreiben. Bis dahin wird man in unseren Schulen wieder Literatur unterrichten und nicht diesen schrecklichen sowjetischen Realismus, den Stalin für fortschrittlich hält. Nur Geduld. Wink mir zu, wenn ich die Straße überquert habe, und geh dann wieder ins Haus.«
Sie steht da im Schnee und sieht ihn gehen. Der Schnee brennt auf ihre Wangen winzige Küsse. Sie verwandeln sich fast sofort in Wassertropfen, die wie kalte Finger abwärts bis in ihren Kragen gleiten.
Schon bald ist ihr Vater nur noch ein verschwommener grauer Fleck in all dem Weiß. Sie denkt, dass er ihr vielleicht nicht mehr zuwinkt, aber sicher ist das nicht. Sie sieht nur, dass die Dunkelheit hereinbricht und alle Farben und Strukturen verändert. Sie versucht, es sich genau einzuprägen, damit sie es später in ihrem Tagebuch beschreiben kann.
»Weißt du noch, dass ich früher davon träumte, Schriftstellerin zu werden?«, fragt Vera leise ihre Mutter.
Erst nach einer ganzen Weile antwortet ihre Mutter, noch leiser: »Ich weiß noch alles.«
»Eines Tages werde ich vielleicht –«
»Schsch«, sagt ihre Mutter und streichelt ihr übers Haar. »Sonst tut es noch mehr weh. Das weiß ich auch.«
Vera hört Enttäuschung in ihrer Stimme, und gleichzeitig Hinnahme. Sie fragt sich, ob sie eines Tages auch so klingen wird, ob es ihr leichter scheinen wird zu resignieren. Noch bevor sie sich eine Erwiderung überlegen kann, hört sie Leo in der Küche. Zweifellos unterhält er sich mit seinem besten Freund, dem Stoffkaninchen.
Jetzt hat der Krieg angefangen, denkt Vera. Sie spürt, dass ihre Mutter sie küsst, hört, dass sie ihr etwas ins Ohr flüstert, versteht aber nichts, denn das Dröhnen in ihrem Kopf ist zu laut. Sie schlägt die Decke zurück und setzt sich auf die Bettkante. Obwohl es an diesem Morgen warm ist, genau wie in der Nacht zuvor, hat sie Rock und Pullover an. Am Fußende wartet ein altes Paar Schuhe auf sie. Alle schlafen jetzt vollständig angezogen, denn ein Luftangriff kann jederzeit kommen.
Geräusche erfüllen nun die kleine Wohnung: Olga jammert, dass sie noch müde ist und ihre Arme vom Bildertragen weh tun; ihre Großmutter putzt sich die Nase, Anja erklärt jedem Einzelnen, dass sie Hunger hat.
Alles ganz normal.
Vera schluckt, um ihren Kloß im Hals zu lösen, aber es gelingt ihr nicht. In der Küche sieht sie Leo – mit den goldenen Engelslöckchen und den ausdrucksvollen grünen Augen ist er das Ebenbild seines Vaters. Leo. Ihr Löwe. Er lacht und erzählt seinem armen, mitgenommenen, einäugigen Kaninchen, dass sie heute vielleicht in den Sommergarten gehen, um die Schwäne zu füttern.
»Es ist
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