Ein Garten im Winter
genug wäre, ihm in die Augen zu blicken, als sie sagt: »Ich liebe dich auch, Sascha.«
Komm zurück zu mir.
Und kurz darauf ist er fort.
Neunzehn
Vera und Olga haben Glück mit ihren Arbeitsstellen. Olga arbeitet im Museum der Eremitage und Vera in der Öffentlichen Bibliothek von Leningrad. Jetzt verbringen beide ihre Tage in dunklen, stillen Räumen und packen Meisterwerke der Kunst und Literatur ein, damit die Geschichte des Sowjetstaates nicht verlorengeht. Nach der Arbeit geht Vera allein nach Hause. Manchmal macht sie einen Umweg, um den Sommergarten zu sehen und sich an den Tag mit Sascha zu erinnern, aber das fällt ihr immer schwerer, denn schon ändert sich Leningrads Gesicht. Das bronzene Reiterstandbild ist mit Sandsäcken und Holz zugebaut. Über dem Smolny hängen Tarnnetze. Die goldenen Turmspitzen der Admiralität sind mit grauer Farbe übermalt worden. Wohin sie auch sieht, herrscht geschäftiges Treiben. Man baut Luftschutzbunker, steht Schlange vor den Lebensmittelläden oder hebt Gräben aus. Der Himmel ist immer noch wolkenlos blau, und bislang sind keine Bomben gefallen, aber alle wissen: Es wird geschehen. Jeden Tag plärren die Lautsprecher Neuigkeiten über das Vorrücken der deutschen Truppen heraus. Niemand glaubt, dass die Deutschen Leningrad erreichen – ihre magische, aus Lehm und Knochen erbaute Stadt. Aber es zweifelt auch niemand, dass Bomben darauf fallen werden.
Auf dem Heimweg geht Vera in die Bank und hebt die zweihundert Rubel ab, die ihr monatlich gewährt werden, und dann steht sie Schlange für drei Laib Brot und etwas Käse. An diesem Tag hat sie Glück, weil noch etwas da ist, als sie an der Reihe ist. Manchmal schließt der Laden schon, bevor sie das Ende der Schlange erreicht hat.
Als sie um acht Uhr abends schließlich zu Hause ist, spielen Anja und Leo im Wohnraum Krieg. Sie hüpfen von Bett zu Bett und geben Geräusche von sich, als schössen sie aufeinander.
»Mama!«, ruft Leo, als er sie sieht. Er verzieht sein verschmiertes Gesicht zu einem Grinsen und stürzt sich in ihre Arme. Anja folgt ihm dichtauf, umarmt Vera aber nur flüchtig. Sie ist verärgert über die Veränderungen, die der Krieg mit sich bringt, und möchte, dass alle es mitkriegen. Sie will nicht den ganzen Tag im Kindergarten verbringen, erst um sechs Uhr abends nach Hause kommen und dann bei der »stinkenden Nachbarin« bleiben.
»Wie geht es meinen Kleinen?«, fragt Vera und zieht die widerstrebende Anja in ihre Arme. »Was habt ihr heute im Kindergarten gemacht?«
»Ich bin zu alt für den Kindergarten«, erklärt Anja und bemüht sich krampfhaft um eine kluge Miene.
Vera tätschelt ihrer Tochter den Kopf und geht dann in die Küche. Sie setzt gerade einen Topf Wasser auf den Herd, als Olga die Wohnung betritt.
»Hast du es schon gehört?«, fragt sie atemlos.
Vera dreht sich um. »Was denn?«
Olga wirft einen nervösen Blick zu Anja und Leo, die mit Stöcken spielen. »Die Kinder von Leningrad«, sagt sie und senkt die Stimme, »werden evakuiert.«
Als Vera am Morgen der Evakuierung aufwacht, fühlt sie sich krank. Sie bringt es nicht über sich, sie kann einfach nicht ihre Kinder in einen Zug mit unbekanntem Ziel setzen und dann einfach so weitermachen wie bisher. Sie liegt im Bett, in der einzigen Privatsphäre, die die vollgestopfte Wohnung zulässt, und starrt an die schimmlige Decke mit den Wasserflecken. Sie hört, wie sich im Nebenbett ihre Mutter unruhig herumwirft und Olga leise schnarcht.
»Vera?«, fragt die Mutter.
Vera wendet sich ihr zu.
Die Mutter sieht sie an. Ihre Betten stehen so nah beieinander, dass sie sich fast berühren können. Als Olga sich umdreht, rutscht Mama die fadenscheinige Decke von der Schulter. »Du darfst nicht darüber nachdenken!«, sagt sie, und Vera fragt sich, ob sie eines Tages ebenfalls wissen wird, was ihre Kinder denken, noch bevor sie selbst es wissen.
»Wie denn nicht!«, widerspricht Vera. Ihr ganzes Leben wusste sie, wie man eine gute Sowjetbürgerin ist, wie man die Regeln befolgt, sich bedeckt hält und keine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber jetzt … wie soll sie blind dieser Anordnung folgen?
»Genosse Stalin hat seine Augen überall. Ganz sicher beobachtet er die Deutschen und weiß daher, wohin er unsere Kinder schicken muss, damit sie in Sicherheit sind. Und alle Arbeiterkinder müssen gehen. Mehr ist dazu nicht zu sagen.«
»Und wenn ich sie nie mehr wiedersehe?«
Die Mutter schlägt die Decke zurück, steigt
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