Ein Garten im Winter
der 1827 gestorben war. Schließlich straffte sie ihre Schultern und verkündete: »Ich habe Hunger. Lasst uns essen gehen.« Sie setzte sich ihre Jackie-Onassis-Sonnenbrille auf und bedeckte ihren Kopf mit einem Schal.
Sie gingen zurück in die Innenstadt und fanden an der Uferpromenade ein kleines Restaurant, das mit Sitkas bester russischer Küche warb.
Als Nina die Tür aufdrückte, ertönte eine muntere Klingel über ihren Köpfen. In dem langgestreckten, schmalen Speisesaal standen etwa ein Dutzend Tische; die meisten waren besetzt. Aber die Gäste sahen nicht aus wie Touristen. Es waren breitschultrige Hünen mit Bärten, die an Eisenspäne erinnerten, Frauen mit bunten Kopftüchern und altmodischen Blümchenkleidern, und ein paar Männer mit gelben regenfesten Overalls.
Eine Frau begrüßte sie mit freundlichem Lächeln. Sie war älter, als ihre Stimme klang – etwa sechzig – und mütterlich mollig. Silbrige Locken umrahmten ein rotwangiges Gesicht. Sie sah aus wie der Inbegriff einer Großmutter. »Ich begrüße Sie in unserem Restaurant. Mein Name ist Stacey, und ich freue mich, Ihnen heute zu Diensten sein zu können.« Sie nahm drei Speisekarten und führte sie zu einem kleinen Tisch am Fenster. Draußen erstreckte sich glitzernd das Meer. Ein Fischerboot steuerte aufs Ufer zu und hinterließ eine weiß schäumende Heckwelle.
»Was können Sie uns empfehlen?«, fragte Meredith.
»Die Fleischbällchen wären sehr gut. Unsere Nudeln sind selbstgemacht. Aber der Borschtsch ist unschlagbar.«
»Gibt es Wodka?«, erkundigte sich die Mutter.
»Höre ich da einen russischen Akzent?«
»Ich lebe schon seit langer Zeit nicht mehr dort«, erwiderte sie.
»Nun, trotzdem sind Sie ein Ehrengast. Also legen Sie bitte die Speisekarte weg, ich bringe Ihnen etwas Besonderes.« Sie eilte geschäftig davon und pfiff eine muntere Melodie. Auf ihrem Weg blieb sie kurz an ein paar anderen Tischen stehen, bevor sie hinter einem Perlenvorhang verschwand.
Kurz darauf kam sie mit drei Schnapsgläsern, einer eisgekühlten Flasche Wodka und einem Tablett wieder, auf dem Toastdreiecke mit schwarzem Kaviar lagen. »Sagen Sie nicht, Sie könnten sich das nicht leisten«, bemerkte Stacey. »Wir haben zu viele Touristen und zu wenig Russen hier. Das hier geht aufs Haus. Wasche sdorowje. «
Die Mutter sah überrascht auf. Nina fragte sich, wie lange sie ihre Muttersprache wohl nicht mehr gehört hatte.
»Wasche sdorowje« , erwiderte die Mutter und griff nach ihrem Glas.
Die drei stießen miteinander an, tranken den Wodka und griffen sofort nach dem Kaviartoast.
»Meine Töchter werden langsam gute Russinnen«, bemerkte sie. Dabei klang ihre Stimme ganz sanft; Nina hätte jetzt zu gerne ihre Augen gesehen, aber die Sonnenbrille verdeckte sie.
»Mit nur einem Wodka?«, spöttelte Stacey. »Wohl kaum.«
Die nächsten zwanzig Minuten unterhielten sie sich über Belanglosigkeiten, aber als die Kellnerin mit dem Essen kam, konnten sie über nichts anderes mehr sprechen. Auf Safranbrühe mit winzigen, saftigen Fleischklößchen folgte Pilzsuppe mit Blasen werfender Gruyère-Kruste und dann mit Lachs gefüllter Kalbsbraten mit Kaviarsauce. Als der Apfelstrudel mit Walnüssen kam, behaupteten alle, sie wären satt. Stacey lächelte nur und ging.
Nina schnitt sich als Erste ein Stück ab. »O mein Gott«, sagte sie, als sie von dem buttrigen, walnussgefüllten Strudel kostete.
Ihre Mutter probierte ebenfalls ein Stückchen. »Der schmeckt genau wie der von meiner Mama.«
»Wirklich?«, fragte Meredith.
»Sie sagte immer, das Geheimnis bei einem Strudel sei es, den Teig immer wieder auf das Schneidbrett zu schlagen. Als ich noch jung war, stritt ich mich oft mit ihr darüber. Ich meinte, das sei unnötig. Natürlich habe ich mich geirrt.« Sie schüttelte den Kopf. »Später musste ich beim Strudelbacken immer an meine Mutter denken. Einmal meinte euer Vater, mein Strudel sei zu salzig. Das kam von meinen Tränen. Danach packte ich das Rezept weg und versuchte es zu vergessen.«
»Und? Hast du es vergessen?«
Sie blickte aus dem Fenster. »Ich habe gar nichts vergessen.«
»Weil du es nicht vergessen wolltest«, erwiderte Meredith.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie.
»Wegen des Märchens. Dadurch konntest du uns etwas von dir erzählen.«
»Bis zu deiner Theateraufführung. Es tut mir so leid, Meredith.«
Meredith lehnte sich zurück. »Ich habe mein ganzes Leben auf eine Entschuldigung gewartet, und jetzt
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