Ein Garten im Winter
Kaliforniens und Seattle ein kleiner Ort auf einem grünen Hügel war, hatte dieses verschlafene Küstenstädtchen bereits Theater und Variétés, wo gutgekleidete Männer mit Biberfellhüten in warmen Sommernächten russischen Wodka tranken. Erbaut, durch ein Feuer vernichtet und wieder neu erbaut, war es nun zu gleichen Teilen russisch, amerikanisch und Tlingit.
Da die Küste zu flach für große Kreuzfahrtschiffe war, empfing Sitka seine Gäste nur in kleinen Barkassen. Als sie in den Hafen einliefen, schoss Nina ein Foto nach dem anderen. Dies war einer der ursprünglichsten Orte, die sie je gesehen hatte. Die Schönheit der Natur, das Blau des Himmels und des Wassers waren im goldenen Sonnenlicht atemberaubend. Um sie herum erhoben sich dichtbewachsene kleine Inseln aus der ruhigen See wie ein Halsband aus unregelmäßigen dunkelgrünen Jadesteinen. Dahinter ragten die Berge empor, auf deren Gipfeln immer noch Schnee lag.
An Land ließ Nina den Fotoapparat sinken und bedeckte das Objektiv mit der Schutzkappe.
Die Mutter schirmte mit einer Hand ihre Augen ab und betrachtete die Stadt, die sich vor ihnen ausbreitete. Von hier aus konnten sie einen hoch aufragenden Turm mit dem russischen Kreuz sehen.
Instinktiv griff Nina wieder nach ihrer Kamera. Sie blickte durch die Linse und sah, dass die scharfen Züge ihrer Mutter weicher wurden, als sie auf den Turm blickte. »Wie ist es, Mom, das zu sehen?«, wollte sie wissen und näherte sich ihr.
»Es ist schon so lange her«, antwortete sie, ohne den Blick davon zu lösen. »Es erinnert mich … an alles, schätze ich.«
Meredith trat von der anderen Seite zu ihr. Alle drei schlossen sich der kleinen Menge an, die das Schiff verlassen hatte. Sie gingen den Harbor Drive hinauf und stießen überall auf Spuren von Sitkas russischer Vergangenheit: in Namen von Straßen und Geschäften, auf den Speisekarten der Restaurants. Es gab in der Innenstadt sogar einen Totempfahl, in den das Emblem des Zarenreichs geschnitzt war: der doppelköpfige Adler.
Als sie an den vielen Spuren ihrer Heimat vorbeikamen, sagte die Mutter kein Wort, aber als sie die St. Michaels Church betraten, taumelte sie und wäre gefallen, hätten ihre Töchter sie nicht gestützt.
Um sie herum funkelten unzählige goldene Ikonen. Ein paar waren nur alte Gemälde auf Holz, andere juwelenbesetzte Statuen aus Silber oder Gold. Weiße Bögen mit kunstvollen, goldenen Verzierungen teilten das Innere der Kirche auf. Auch perlengeschmückte Hochzeitskleider und sakrale Gewänder waren ausgestellt.
Sie sah sich alles an und berührte es auch, wo es möglich war. Schließlich verharrte sie in einem Bereich, den Nina für den Altarraum hielt: ein kleiner Raum, der mit schwerer, weißer und mit goldenen russischen Kreuzen bestickter Seide ausgekleidet war. Überall waren Kerzen und ein paar alte, aufgeschlagene Bibeln.
»Möchtest du mit uns beten, Mom?«, fragte Meredith.
»Nein.« Sie schüttelte leicht den Kopf und wischte sich kurz über die Augen, obwohl Nina keine Tränen sah. Dann verließen sie die Kirche und gingen ein kleines Stück. Nina hatte gesehen, dass ihre Mutter einen Stadtplan von Sitka studiert hatte. Sie wusste also genau, wohin sie wollte. Sie ging an einem Schild vorbei, das für historische Stadtführungen warb, und bog in einen Friedhof ein. Es war nur eine kleine grüne Anhöhe mit dürren Bäumchen und ein paar braunen Büschen. Eine kupferne Kuppel mit dem russischen Kreuz kennzeichnete den Kirchhof. Die Grabmarkierungen waren altmodisch, viele handgemacht. Nur ein schlichtes schwarzes Schild zeigte das Grab der Prinzessin Matsutow an. Ein weißer Zaun grenzte es von den anderen ab. Die wenigen Grabsteine waren mit Moos bewachsen. Es sah so aus, als wäre seit Jahren niemand mehr hier beerdigt worden, und doch schritt die Mutter über die unebene Rasenfläche und sah sich jedes Grab genau an.
Nina machte ein Foto von ihr, als sie vor einem Grabstein stand, den vor Jahrzehnten ein Sturm umgeweht hatte. Die sanfte Frühlingsbrise spielte mit ihrem straffen Haarknoten. Sie wirkte … fast ätherisch, zu schmal und bleich, um wirklich zu sein, doch die Traurigkeit in ihren Augen war so greifbar, wie Nina es nur selten gesehen hatte. Sie ließ die Kamera sinken und trat zu ihrer Mutter.
»Wen suchst du denn?«
»Niemanden«, erwiderte sie, fügte dann jedoch hinzu: »Geister.«
Sie blieben noch einen Moment stehen und blickten auf das Grab von Dmitri Petrowitsch Stolichnaja,
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