Ein Garten im Winter
aufgetürmter Leichen. Von Bomben aufgerissene Felder. Flugzeuge und Maschinengewehre als ständiges Hintergrundgeräusch.
Der Zug kommt nur langsam voran und hält in einigen kleinen Städten. Bei jedem Halt versuchen ausgehungerte Menschen einzusteigen und sich zwischen die schmutzigen, benommenen Passagiere zu zwängen, die nach Osten fahren. Gerüchte kommen auf, man flüstert sich zu, dass vor uns heftig gekämpft wird, doch ich höre nicht hin. Es ist mir im Grunde gleichgültig. Ich bin innerlich so leer, dass mir kaum noch etwas wichtig ist.
Und dann, wie durch ein Wunder, erreichen wir Wologda. Als die Zugtüren aufspringen, wird mir klar, dass ich nicht mehr damit gerechnet habe.
Ich weiß noch, dass ich gelächelt habe.
Gelächelt.
Ich stecke sogar mein Haar sorgfältig unter das Kopftuch, damit Sascha nicht bemerkt, wie alt ich geworden bin. Ich umklammere den kleinen Koffer, der all meine – unsere – Habseligkeiten enthält, und dränge durch die Menge zum Ausgang.
Draußen in der Kälte zerstreut sich die Menge. Die einen gehen hierhin, die anderen dorthin, wahrscheinlich auf der Suche nach Freunden oder Nahrungsmitteln.
Ich stehe nur da und fühle, wie die anderen sich von mir entfernen. In der Ferne höre ich das Dröhnen von Flugzeugen und weiß, was das heißt. Wir alle wissen, was das heißt. Die Alarmsirene ertönt, und die anderen Passagiere rennen los, um Deckung zu suchen. Ich sehe einige, die sich in Gräben stürzen.
Aber da steht Sascha, keine hundert Meter von mir entfernt. Ich erkenne, dass er Anja an der Hand hält. Mit ihrem leuchtend roten Mantel sieht sie aus wie ein dicker, gesunder Kardinal im Schnee.
Ich weine, noch bevor ich den ersten Schritt tue. Meine Füße sind geschwollen und mit Frostbeulen übersät, aber das merke ich nicht mal. Ich denke nur meine Familie und renne los. Ich sehne mich so nach Saschas Umarmung, dass ich nicht mehr nachdenke.
Dumm von mir.
Zu spät höre ich die Bombe. Dachte ich, das Pfeifen käme von meinem Herzen oder meinem Atem?
Plötzlich explodiert alles um mich herum: der Zug, der Baum neben mir, ein Lastwagen auf der anderen Straßenseite.
Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich Sascha und Anja noch dastehen, dann fliegen sie, von Feuer umhüllt, durch die Luft …
Als ich wieder aufwache, liege ich in einem Lazarett. Ich liege dort, bis meine Erinnerung zurückkehrt, dann stehe ich auf.
Um mich herum sehe ich nur verbrannte, verstümmelte Körper. Höre stöhnende, weinende Menschen.
Es dauert einen Augenblick, bis ich merke, dass ich keine Farben mehr sehe. Ich höre alles nur gedämpft, so als hätte ich Watte in den Ohren. Eine Seite meines Gesichts ist aufgerissen und blutet, aber das spüre ich kaum.
Das Rotorange des Feuers ist die letzte Farbe, die ich jemals sehen werde.
»Sie sollten nicht aufstehen«, sagt ein Mann zu mir. Er hat den müden Blick eines Menschen, der zu viel Krieg gesehen hat. Sein Kittel ist an mehreren Stellen aufgerissen.
»Mein Mann«, sage ich, schreie es, um meine Stimme über den Lärm hinweg zu hören. Da ist auch ein Klingeln in meinen Ohren. »Meine Tochter. Ein kleines Mädchen in einem roten Mantel und ein Mann. Sie standen da … der Zug wurde bombardiert … ich muss sie finden.«
» Tut mir leid«, sagt er, und mein Herz klopft so laut, dass ich sonst kaum etwas höre. » Keine Überlebenden … nur Sie … Hier –«
Ich dränge mich an ihm vorbei, renne stolpernd von Bett zu Bett, finde aber nur Fremde.
Draußen schneit es heftig. Es ist eiskalt. Ich erkenne den Ort nicht wieder. Ein endloses Schneefeld. Der Schnee bedeckt nun gnädig die Auswirkungen der Explosion, aber ich sehe einen Hügel. Das sind wohl die Leichen.
Dann entdecke ich es: einen kleinen dunklen Fleck im Schnee, neben dem nächsten Zelt. Ich würde gern sagen, dass ich dorthin gerannt bin, aber ich gehe nur langsam. Erst die schneidende Kälte macht mir bewusst, dass ich barfuß bin.
Es ist ihr Mantel. Der Mantel von meiner Anja. Oder das, was davon übrig geblieben ist. Das leuchtende Rot kann ich nicht mehr sehen, wohl aber den Zettel am Revers, mit ihrem Namen, den ich selbst daraufgeschrieben habe. Der Zettel ist nass, die Tinte verwischt, aber trotzdem erkennbar. Es ist nur noch die Hälfte des Mantels da – ich möchte nicht daran denken, wie das passiert ist –, die andere ist einfach weg.
Auf dem hellen Futter sehe ich auch Blutflecke.
Ich drücke den Mantel an die Nase und atme tief
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