Ein Garten im Winter
besten Absichten hatte das Märchen sie wieder in seinen Bann gezogen. »Kommt, Mädchen. Euer Grandpa braucht Ruhe.«
»Renn doch nicht weg«, bat ihr Dad sie.
»Wegrennen? Es ist fast zehn, Dad. Die Mädchen waren den ganzen Tag unterwegs. Sie sind erschöpft. Morgen früh sind wir wieder da.« Sie trat zu ihm ans Bett und beugte sich zu ihm, um ihn auf die stoppelige Wange zu küssen. »Schlaf ein bisschen, ja?«
Er berührte ihr Gesicht, legte seine trockene Hand auf ihre Wange und blickte zu ihr hinauf. »Hast du zugehört?«
»Natürlich.«
»Du musst ihr zuhören. Sie ist deine Mutter.«
Am liebsten hätte sie erwidert, dass sie keine Zeit für Märchen hatte und es schwer war, einer Frau zuzuhören, die kaum sprach, doch sie lächelte: »Ist gut, Dad. Ich hab dich lieb.«
Langsam zog er seine Hand zurück. »Ich dich auch, Meredoodle.«
Die Märchen hatten immer zu Ninas besten Kindheitserinnerungen gezählt, und sie erinnerte sich noch gut an sie, obwohl sie seit Jahrzehnten keine mehr erzählt bekommen hatte.
Aber warum wollte ihr Vater sie jetzt unbedingt noch einmal hören? Er wusste doch, dass das kein gutes Ende nehmen würde. Meredith und ihre Mom hatten ja gar nicht schnell genug das Zimmer verlassen können.
Sie trat zu ihm ans Bett. Jetzt waren sie allein. Hinter ihr knackte das Feuer, und ein Holzscheit zerfiel in orange-schwarze Stücke.
»Ich höre ihre Stimme so gern«, sagte er.
Da begriff Nina auf einmal. Ihr Vater hatte die einzige Möglichkeit genutzt, ihre Mutter zum Sprechen zu bewegen. »Du wolltest uns alle zusammenbringen.«
Er seufzte. Es war nur ein hauchdünner Laut, und danach wirkte er noch blasser. »Du weißt doch, worüber ein Mensch … in meiner Lage nachdenkt?«
Sie griff nach seiner Hand. »Worüber?«
»Fehler.«
»Du hast doch kaum welche gemacht.«
»Sie versuchte, mit euch zu reden. Bis zu diesem gottverdammten Theaterstück … ich hätte nicht zulassen sollen, dass sie sich zurückzieht. Sie ist innerlich zerbrochen, und ich liebe sie so sehr.«
Nina küsste ihn auf die Stirn. »Das ist nicht mehr wichtig, Dad. Mach dir keine Sorgen.«
Er griff erneut nach ihrer Hand und sah sie mit seinen wässrig braunen Augen an. »Es ist wichtig«, sagte er mit zitternden Lippen und so schwacher Stimme, dass sie ihn kaum verstand. »Sie braucht euch … und ihr braucht sie. Versprich mir das.«
»Was soll ich versprechen?«
»Wenn ich weg bin. Ihr näherzukommen.«
»Wie denn?« Sie beide wussten, dass man ihrer Mutter nicht näherkommen konnte. »Ich hab’s doch versucht. Aber sie will nicht mit uns reden. Das weißt du doch.«
»Bring sie dazu, euch die Geschichte von dem Bauernmädchen und dem Prinzen zu erzählen.« Mit diesen Worten schloss er wieder die Augen. Sein Atem ging pfeifend. »Die ganze Geschichte.«
»Ich weiß, was du glaubst, Dad. Ihre Geschichten haben uns früher zusammengebracht. Ich dachte auch kurzzeitig … aber ich hab mich geirrt. Sie wird nicht –«
»Versuch es einfach, ja? Ihr habt nie die ganze Geschichte gehört.«
»Aber –«
»Versprich es mir.«
Sie berührte seine Wange, spürte seine stachligen weißen Bartstoppeln und die feuchte Spur seiner Tränen. Sie sah, dass er fast schon schlief. Dieser Nachmittag und vielleicht auch dieses Gespräch hatten ihn zu viel Kraft gekostet, und jetzt war er so bleich, dass sich sein Gesicht kaum von dem weißen Kissen abhob. Er hatte sich immer gewünscht, dass seine Frau und seine Kinder sich liebten. Er wünschte es sich so sehr, dass er sich an den Glauben klammerte, eine schöne Geschichte würde dies bewirken. »Ist gut, Dad …«
»Hab dich lieb«, murmelte er undeutlich. Sie verstand es nur, weil sie es schon so oft gehört hatte.
»Ich dich auch.« Sie gab ihm erneut einen Kuss auf die Stirn und zog ihm die Decke bis zum Kinn. Dann schaltete sie die Nachttischlampe aus, hängte sich den Fotoapparat um und verließ das Zimmer.
Draußen holte sie tief Luft, um sich zu beruhigen, und ging dann nach unten. Sie entdeckte ihre Mutter in der Küche, sie stand an der Arbeitsplatte und schnitt Rüben und gelbe Zwiebeln klein. Auf dem Herd köchelte ein gewaltiger Topf Borschtsch.
Natürlich. Bei Problemen suchte Meredith Zuflucht in der Arbeit, Nina schoss Fotos und ihre Mom kochte. Nur reden, das taten die Whitson-Frauen niemals.
»Hey«, sagte Nina und lehnte sich gegen den Türrahmen.
Langsam drehte ihre Mutter sich zu ihr um. Ihr weißes Haar war aus ihrem eckigen
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