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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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Gesicht zurückgenommen und in einem Ballerinaknoten zusammengefasst. Im Kontrast zu ihrer blassen Haut wirkten ihre eisblauen Augen für eine Frau ihres Alters unglaublich scharf. Und doch lag ein Anflug von Verletzlichkeit in ihrem Blick, den Nina noch nie zuvor wahrgenommen hatte, und dies ließ sie einen kühnen Vorstoß wagen.
    »Ich hab deine Geschichten immer geliebt«, erklärte sie.
    Die Mutter wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Märchen sind was für Kinder.«
    »Dad liebt sie auch. Er hat mir erzählt, dass du ihm an Heiligabend jedes Mal eine Geschichte erzählt hast. Vielleicht könntest du mir morgen eine erzählen. Ich würde gerne den Rest vom Märchen um das Bauernmädchen und den Prinzen hören.«
    »Er liegt im Sterben«, erwiderte sie. »Da ist es wohl ein bisschen spät für Märchen.«
    In diesem Augenblick wurde Nina klar, dass sie ihr Versprechen nicht würde halten können, ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte. Es gab einfach keinen Weg, ihrer Mutter näherzukommen. Den hatte es nie gegeben.

Fünf
    Meredith warf die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Sie nahm den Morgenmantel von der Badezimmertür und achtete beim Zähneputzen sorgfältig darauf, nicht in den Spiegel zu schauen. Reflektierende Oberflächen würden es heute nicht gut mit ihr meinen.
    Als sie ihr Zimmer verließ, hörte sie Geräusche: Unten tollten bellend die Hunde und irgendwo lief ein Fernseher. Meredith lächelte. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte sie sich wieder heimisch.
    In der Küche deckte Jillian den Tisch. Die Hunde saßen neben ihr und warteten, dass etwas für sie abfiel.
    »Dad hat gesagt, ich sollte dich ausschlafen lassen«, bemerkte Jillian.
    »Danke«, erwiderte Meredith. »Wo ist deine Schwester?«
    »Noch im Bett.«
    Jeff reichte Meredith einen Becher Kaffee. »Geht’s dir gut?«, fragte er leise.
    »Schlecht geschlafen«, antwortete sie und blickte ihn über den Rand ihres Kaffeebechers an. Das Märchen hatte eine Menge alter Gefühle hochkommen lassen und ihr in Kombination mit der Angst um ihren Vater eine unruhige Nacht beschert. »Hab ich dich vom Schlafen abgehalten?«
    »Nein.«
    Ihr kam in den Sinn, dass sie früher immer eng umschlungen geschlafen hatten. In letzter Zeit jedoch hielten sie so großen Abstand, dass es den einen nicht störte, wenn der andere nicht schlafen konnte.
    »Mom?«, fragte Jillian und legte Servietten neben die Teller. »Können wir Grandpa und Baba gleich heute Morgen besuchen?«
    Meredith griff an Jeff vorbei nach dem Stapel mit Butter bestrichener Toastscheiben auf der Anrichte. Sie biss ein winziges Stück von ihrem Toast und erklärte: »Ich wollte direkt dorthin. Kommt doch nach dem Frühstück nach.«
    Jeff nickte. »Wir gehen eine Runde mit den Hunden und sind kurz danach da.«
    Sie nickte und ging mit dem Kaffeebecher nach oben, wo sie Schlafanzug und Morgenmantel gegen bequeme Jeans und einen Rollkragenpulli mit Zopfmuster eintauschte. Nach einem kurzen Abschiedsgruß verließ sie rasch das Haus.
    Es war ein überraschend sonniger Tag. Als sie die Viertelmeile zu ihrem Elternhaus hinuntermarschierte, war ihr Atem deutlich zu sehen. Die ganze Nacht hatte sie Träume von ihrem Vater gehabt. Vielleicht waren es aber auch nur Erinnerungen gewesen, die ihr durch den Kopf gewirbelt waren. Oder vielleicht eine Mischung aus beidem. Sicher wusste sie nur, dass sie sich jetzt an sein Bett setzen und Geschichten aus seinem Leben hören wollte, damit sie sie hüten und eines Tages weitererzählen konnte. Das hatten sie vernachlässigt: Familiengeschichten weiterzuerzählen, Fotos in Alben zu kleben und dergleichen mehr. Sie wussten, dass ihr Dad Verwandte in Oklahoma hatte, die von der Wirtschaftskrise sehr gebeutelt worden waren. Sie wussten auch, dass er zur Armee gegangen war und noch während seines aktiven Dienstes ihre Mom kennengelernt hatte. Aber das war auch schon fast alles. Die meisten Familiengeschichten handelten vom Aufbau von Belije Notschi. Außerdem hatte Meredith, wie die meisten Kinder, sich mehr für ihr eigenes Leben interessiert als für das ihrer Eltern.
    Jetzt wollte sie dieses Versäumnis nachholen. Sie wollte sich auch entschuldigen, dass sie nach dem Märchen geflüchtet war. Sie wusste, damit hatte sie seine Gefühle verletzt, und das bereute sie zutiefst. Aber heute Morgen würde sie ihm einen Kuss geben und ihm sagen, wie sehr sie ihn liebte und wie leid es ihr tat. Wenn es ihm so wichtig war, würde sie sich jede einzelne

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