Ein Garten im Winter
bemerkenswertem Gleichmut. Hitze und Staub setzten ihnen zu. Sie wanderten meilenweit für einen Eimer Wasser, warteten Stunden für eine Schale Reis vom Roten Kreuz, doch trotz allem spielten Kinder im Staub, und hier und da erhob sich Lachen über das Wimmern und Stöhnen.
Nina war genauso schmutzig, müde und hungrig wie alle um sie herum. Sie hielt sich bereits seit zwei Wochen in diesem Lager auf. Davor war sie in Sierra Leone gewesen und hatte sich verstecken müssen, um nicht selbst angeschossen oder vergewaltigt zu werden.
Jetzt hockte sie sich in den roten Staub. Durchdringendes Summen – von Stimmen, Insekten und fernen Generatoren – erfüllte das Lager. Weiter links zeigte eine zerfledderte Flagge über einem ausgemusterten Armeezelt an, dass es hier medizinische Notversorgung gab. Davor standen Hunderte von Verletzten geduldig Schlange.
Vor ihr lag, halb innerhalb, halb außerhalb eines Zelts, ein alter Mann in den Armen seiner Frau. Er hatte vor kurzem ein Bein verloren, und aus dem dunklen runzligen Beinstumpf sickerte rot das Blut in die Decke, die darum gewickelt war. Seine Frau stützte ihn schon seit Stunden, obwohl ihr ausgemergelter Körper schmerzen musste. Jetzt ließ sie kostbare Tropfen Wasser in seinen Mund rinnen.
Nina bedeckte ihr Objektiv und stand auf. Während sie das Lager überblickte, spürte sie, wie nie da gewesene Erschöpfung sie überwältigte. Zum ersten Mal in ihrer beruflichen Laufbahn konnte sie die Tragödie kaum ertragen. Dabei war es hier nicht schlimmer als anderswo. Daran lag es nicht. Nicht die Lage hatte sich verändert, sondern sie. Wohin sie auch ging, ihre Trauer begleitete sie und machte es ihr unmöglich, sich von ihrer Umgebung zu distanzieren.
Normalerweise gingen die Leute davon aus, ihre Arbeit bestünde nur darin, einfach da zu sein , Bilder zu sehen und sie abzulichten, doch in Wahrheit waren ihre Fotos eine Auslagerung dessen, was sie war, was sie dachte und fühlte. Nur mit vollkommener Konzentration konnte man das intensive Leid von Katastrophenopfern auf Film bannen. Man musste hundertprozentig im Augenblick sein – aber es musste der Augenblick, das Leid der Abgelichteten bleiben.
Sie öffnete ihren Rucksack und holte das Satellitentelefon heraus. Sie ging so weit nach Osten, wie sie es wagte, baute es auf, richtete die Schüssel aus und rief Danny an.
Kaum hörte sie seine Stimme, spürte sie, wie sich etwas in ihrer Brust löste.
»Danny«, rief sie laut, um das statische Rauschen zu übertönen.
»Nina, Liebste. Ich dachte, du hättest mich vergessen. Wo bist du?«
Sie zuckte zusammen, als sie das hörte. »Guinea. Und du?«
»Sambia.«
»Ich bin müde«, sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung. Sie konnte sich nicht erinnern, das jemals gesagt zu haben, zumindest nicht wenn sie arbeitete.
»Ich könnte Mittwoch auf Mnemba Island sein.«
Blaues Meer. Weißer Sand. Eisgekühlte Getränke. Sex. »Ich bin dabei.«
Sie beendete das Gespräch und packte das Telefon wieder zusammen. Dann warf sie sich die Tasche über die Schulter und ging ins Lager zurück. Es waren neue Lkws vom Roten Kreuz angekommen, und gerade brach das übliche Chaos der Lebensmittelverteilung aus. Sie wich ein paar Frauen mit einem Karton voller Nahrungsmittel aus und kam an dem Zelt vorbei, wo sie Fotos geschossen hatte.
Der Mann mit den blutigen Bandagen war gestorben. Die Frau aber saß immer noch bei ihm, wiegte ihn in den Armen und sang ihm etwas vor.
Nina blieb stehen und schoss ein Foto, doch dieses Mal bot das Objektiv keinen Schutz, und als sie die Kamera senkte, bemerkte sie ihre Tränen.
Vom bequemen Rücksitz eines mit Klimaanlage versehenen SUV blickte Nina hinaus auf die Straßen von Sansibar. Sie waren eng und gewunden, und überall drängten sich Menschen: Frauen in muslimischer Verschleierung, Schulkinder in blauweißen Uniformen, Männer, die sich in Grüppchen versammelten. Am Wegesrand versuchten Straßenhändler ihre Ware an den Mann zu bringen, von Obst und Gemüse über Tennisschuhe bis zu kaum getragenen T-Shirts. Im Busch jenseits der Straße pflückten Frauen – meist mit Babys auf dem Rücken oder Arm – Gewürznelken. Sie wurden in zimtfarbenen Mustern am Straßenrand ausgelegt, um in der sengenden Sonne zu trocknen.
Als das Taxi schließlich von der Hauptstraße auf den Schotterpfad zum Strand einbog, hielt Nina sich krampfhaft am Türgriff fest. Der Boden war reines Korallengestein – wie die ganze Insel –, und jeden
Weitere Kostenlose Bücher