Ein Garten im Winter
Praxisparkplätze.
In dem Backsteingebäude, in dem die Praxis lag, erwartete sie Georgia Edwards am Empfang und lächelte ihnen so strahlend und selbstbewusst zu wie früher als Cheerleaderin an der Highschool. »Hey, Mere«, begrüßte sie sie freundlich.
»Hi, Georgia. Hat Daisy euch schon vorgewarnt?«
»Du kennst doch Jim. Für die Whitsons hat er immer Zeit. Geht schon mal in Untersuchungsraum A.«
Auf dem Weg dorthin schien ihrer Mutter auf einmal bewusst zu werden, wo sie waren. »Das ist doch lächerlich«, meinte sie und riss sich los.
»Du kannst sagen, was du willst«, erwiderte Meredith, »aber du wirst dich untersuchen lassen.«
Ihre Mutter straffte sich, reckte das Kinn und schritt forsch zum ersten Untersuchungsraum. Dort setzte sie sich auf den einzigen Stuhl.
Kurz darauf betrat Dr. James Burns lächelnd das Zimmer. Mit seinem kahlen Kopf und den mitfühlenden grauen Augen erinnerte er Meredith immer an ihren Vater. Sie hatten seit Jahren miteinander Golf gespielt. Jims Vater war einer der besten Freunde ihres Vaters gewesen. Dr. Burns umarmte Meredith und vermittelte ihr damit, dass er ebenfalls trauerte und ihren Vater vermisste.
»Wie geht es dir heute, Anja?«, erkundigte er sich.
»Mir geht’s gut, James. Danke der Nachfrage. Meredith macht nur Theater. Du kennst sie ja.«
»Dürfte ich dich vielleicht trotzdem untersuchen?«, fragte er.
»Natürlich«, antwortete sie, »aber es ist vollkommen überflüssig.«
Jim unterzog sie kurz einer allgemeinen Untersuchung. Danach machte er sich ein paar Notizen und fragte: »Welches Datum haben wir heute, Anja?«
»Den 31. Januar 2001«, sagte sie, ruhig und klar. »Mittwoch. Wir haben einen neuen Präsidenten, George Bush junior. Und die Hauptstadt unseres Bundesstaates ist Olympia.«
Jim zögerte kurz. »Und wie geht es dir wirklich, Anja?«
»Mein Herz schlägt. Ich atme. Ich schlafe und wache wieder auf.«
»Vielleicht solltest du dir Hilfe suchen«, schlug er sanft vor.
»Wo denn?«
»Bei einem Arzt, der dir über deinen Verlust hinweghilft.«
»Über den Tod gibt es nichts zu sagen. Ihr Amerikaner glaubt immer, Worte könnten etwas ändern. Aber das stimmt nicht.«
Er nickte.
»Meine Tochter könnte vielleicht Hilfe brauchen.«
»Alles klar«, sagte er und machte sich noch ein paar Notizen. »Würdest du kurz ins Wartezimmer gehen, während ich mit ihr spreche?«
Sofort stand sie auf und ging.
»Irgendwas stimmt nicht mit ihr«, wandte Meredith ein, kaum dass sie allein waren. »Sie ist ständig verwirrt. Sie schläft kaum. Heute hat sie ihr Mittagessen in den Manteltaschen verstaut und gesagt, es sei für Anja. Sie macht sich ständig Sorgen um einen Löwen und hat mich Olga genannt. Ich glaube, sie verwechselt die Realität mit ihren Märchen. Gestern Abend habe ich gehört, wie sie eins erzählte … so als würde Dad zuhören. Du weißt ja, dass sie im Winter immer deprimiert ist, aber das hier ist etwas anderes. Irgendwas stimmt bei ihr nicht. Könnte sie Alzheimer haben?«
»Sie wirkt aber vollkommen klar auf mich, Meredith.«
»Aber –«
»Sie trauert. Lass ihr ein bisschen Zeit.«
»Aber –«
»Es gibt keinen normalen Weg, mit Trauer umzugehen. Sie waren fünfzig Jahre verheiratet, und jetzt ist sie allein. Wenn du kannst, hörst du ihr einfach zu. Sprich mit ihr. Und lass sie nicht allzu oft allein.«
»Glaub mir, Jim, meine Mom ist immer allein, ob ich nun da bin oder nicht.«
»Dann seid ihr eben zusammen allein.«
»Ja«, sagte Meredith. »Genau. Danke, Jim, dass du dir Zeit für uns genommen hast. Aber jetzt muss ich sie nach Hause bringen und wieder zur Arbeit fahren. Ich hab um Viertel nach zwei ein Meeting.«
»Vielleicht solltest du es etwas langsamer angehen lassen. Wenn du möchtest, könnte ich dir ein Schlafmittel verschreiben.«
Meredith wünschte sich, sie hätte jedes Mal zehn Dollar bekommen, wenn jemand – insbesondere ihr Mann – ihr diesen Rat gab. Dann wäre sie jetzt eine reiche Frau und würde in Mexiko am Strand liegen. »Schon klar, Jim«, erwiderte sie. »Ich nehme mir Zeit und schnuppere an den Blumen am Wegesrand.«
Über einen Monat nach ihrem Aufbruch stand Nina an einem mörderisch heißen Tag in einer Menge verzweifelter, hungernder Flüchtlinge. So weit das Auge reichte, sah man nur Menschen, die vor schmutzigen, schiefen Zelten zusammengedrängt waren. Ihre Lage war kritisch; viele von ihnen waren angeschossen, verletzt oder vergewaltigt, doch trugen sie dies mit
Weitere Kostenlose Bücher