Ein Garten im Winter
Falls du mich brauchst, ich bin im Bad und packe ihre Sachen zusammen.«
Nina sah Meredith nach, als sie die Küche verließ. Zwar war sie nicht überrascht – ihre Schwester blieb sich immer treu –, aber doch enttäuscht. Sie war überzeugt, dass Dad ihnen gemeinsam diese Aufgabe übertragen hatte. Darum ging es doch, oder? Beisammen zu sein. Wozu waren die Märchen sonst gut?
»Ich hab’s versucht, Dad«, sagte sie. »Aber es hat nicht mal was genützt, sie betrunken zu machen.«
Ohne jegliche Gleichgewichtsprobleme stand sie auf. Sie klemmte sich die Wodka-Karaffe unter den Arm, nahm das Schnapsgläschen ihrer Mutter und ging die Treppe hinauf. An der halb geöffneten Badezimmertür blieb sie stehen und lauschte auf das Klappern und Klirren, das von Merediths Packwut zeugte.
»Ich lasse Moms Tür offen«, sagte sie, »falls du zuhören willst.«
Aber aus dem Bad kam keinerlei Reaktion, nicht mal das Rascheln des Zeitungspapiers hörte auf.
Nina durchquerte den Flur bis zum Zimmer ihrer Mutter. Sie klopfte an die Tür, wartete aber nicht, sondern trat direkt ein.
Ihre Mutter saß an einen Berg weißer Kissen gelehnt im Bett und hatte die weiße Decke bis zur Taille gezogen. Das Weiß der Bettwäsche, des Nachthemds, ihrer Haare und ihrer Haut stand im scharfen Kontrast zu dem dunklen Holz des Bettgestells. Vor dem Schwarz des Kopfendes wirkte sie ätherisch, überirdisch wie eine gealterte Galadriel mit leuchtend blauen Augen.
»Ich habe dich nicht hereingebeten«, sagte sie.
»Stimmt. Trotzdem bin ich hier. Wie durch Zauberei.«
»Und du dachtest, ich wollte Wodka trinken?«
»Ich weiß es.«
»Wieso?«
Nina trat zu ihr ans Bett. »Ich habe meinem Vater etwas versprochen, als er im Sterben lag«, erklärte sie und sah, welche Wirkung diese Worte auf ihre Mutter hatten. Sie zuckte zusammen, als wäre sie geschlagen worden. »Du hast ihn geliebt. Das weiß ich genau. Und er wollte, dass ich dein Märchen über das Bauernmädchen und den Prinzen bis zu Ende höre. Er hat mich auf seinem Sterbebett darum gebeten. Dich muss er doch auch darum gebeten haben.«
Ihre Mutter wandte den Blick ab. Sie starrte auf ihre blau geäderten Hände, die sie auf der Decke verschränkt hatte. »Du lässt mich nicht in Ruhe.«
»Nein.«
»Das ist doch nur eine Kindergeschichte. Warum ist sie dir so wichtig?«
»Warum war sie ihm so wichtig?«
Die Mutter antwortete nicht.
Nina stand da und wartete.
Schließlich bat sie: »Gib mir einen Wodka.«
Ganz langsam schenkte Nina ihr einen Wodka ein und reichte ihn ihr.
Sie trank ihn in einem Zug. »Aber ich erzähle sie auf meine Art«, sagte sie und stellte das leere Glas ab. »Wenn du mich unterbrichst, höre ich sofort auf. Ich erzähle sie in Abschnitten und nur abends. Tagsüber werden wir nicht darüber sprechen. Hast du verstanden?«
»Ja.«
»Es muss dunkel sein.«
»Warum muss es –«
Die Mutter warf ihr einen so scharfen Blick zu, dass Nina sofort verstummte. »Tut mir leid.« Sie ging zum Schalter und machte das Licht aus.
Es war eine mondlose Nacht, daher drang kein silbrigblauer Schein durchs Fenster. Das einzige Licht kam von der halb geöffneten Tür zum Flur.
Nina setzte sich auf den Boden und wartete.
Ein Rascheln war zu hören; ihre Mutter machte es sich im Bett bequem. »Wo soll ich anfangen?«
»Im Dezember hast du an der Stelle aufgehört, wo Vera sich aus dem Haus schleichen und mit dem Prinzen treffen wollte.«
Die Mutter seufzte.
Und dann ertönte ihre Märchenstimme, sanft und melodiös: »Nachdem Vera aus dem Park zurückgekommen ist, verbringt sie den Rest des Tages in der Küche bei ihrer Mutter, aber mit den Gedanken ist sie ganz woanders. Sie weiß, dass ihre Mama das merkt, dass sie sie genau beobachtet, aber wie soll sich ein Mädchen darauf konzentrieren
Gänseschmalz in Gläser zu füllen, wenn ihr Herz vor Liebe überströmt?
»Aufpassen, Veronika«, sagt ihre Mama.
Vera sieht einen großen Klecks Gänseschmalz vor ihr auf dem Tisch. Sie wischt ihn mit der Hand auf und wirft ihn in die Spüle. Sie mag Gänseschmalz ohnehin nicht. Viel lieber würde sie jeden Tag sahnige, selbstgestampfte Butter essen.
»Willst du das etwa wegwerfen? Was hast du nur im Kopf?«
Ihre Schwester kichert. »Jungen vielleicht. Einen ganz bestimmten Jungen.«
»Natürlich hat sie Jungen im Kopf«, sagt Mama, wischt sich den Schweiß von der Stirn und rührt weiter im Topf mit den köchelnden Blaubeeren. »Schließlich ist sie
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