Ein Garten im Winter
nächtliche Fluchtpläne im Kopf. Daher sagt sie nichts und macht sich wieder an die Arbeit.
In der Nacht kann Vera nicht still liegen.
Jeder Nerv in ihrem Leib scheint zu zucken. Durch ihr offenes Fenster dringen Stimmengewirr, fernes Hufgeklapper, Musik aus dem Park. Jemand nutzt die milde, helle Nacht, um Geige zu spielen, vielleicht um eine Angebetete zu betören, und oben hört man Schritte – vielleicht tanzt jemand. Bei jedem Schritt knarren die Dielen.
»Hast du Angst?«, fragt Olga, schon mindestens zum fünften Mal.
Vera rollt sich auf die Seite. Olga folgt ihrem Beispiel, und weil ihr Bett so schmal ist, berühren sich fast ihre Nasen. »Wenn du älter bist, wirst du das auch erleben, Olga. Triffst du den Richtigen, dann ist ein Gefühl in deinem Herzen, als ob … als ob du versinkst und wieder auftauchst und nach Luft schnappst.«
Vera umarmt ihre Schwester und drückt ihr einen Kuss auf die weiche Wange. Dann wirft sie die Decke zurück und springt aus dem Bett. Sie versucht, mit einem Handspiegel zu prüfen, wie sie aussieht, sieht sich aber nur stückweise: lange schwarze Haare, die mit Lederbändern zurückgehalten werden, elfenbeinfarbene Haut, rosa Lippen. Sie trägt ein schlichtes blaues Kleid mit einem Spitzenkragen, ein Kleid für kleine Mädchen, aber ein besseres hat sie nicht. Wenn sie doch nur einen Hut hätte, oder eine Brosche oder, am besten, Parfüm.
»Tja, gut«, sagt sie und wendet sich zu ihrer Schwester. »Wie seh ich aus?«
»Wunderschön.«
Vera strahlt. Sie weiß, dass es stimmt. Sie ist ein hübsches Mädchen, manche halten sie sogar für schön.
Sie geht zur Tür des Zimmers und lauscht. Nichts zu hören. »Sie sind im Bett«, sagt sie. Auf Zehenspitzen schleicht sie zum Fenster, das im Sommer immer offen steht. Sie gibt ihrer Schwester einen Luftkuss und klettert hinaus auf das niedrige schmiedeeiserne Geländer. Während sie sich vorsichtig herunterlässt, rechnet sie jeden Augenblick damit, dass jemand auf der Straße sie sieht und laut meldet, dass ein Mädchen sich nachts hinausschleicht, um einen Jungen zu treffen.
Aber die Menschen auf der Straße sind trunken von Licht und Met und achten kaum auf das Mädchen, das aus dem zweiten Stock herunterklettert. Als sie die letzten Meter springt und auf einem schmalen Rasenstreifen landet, kann sie sich kaum halten vor lauter Aufregung. Ein Kichern entfährt ihr, so dass sie sich die Hand vor den Mund hält, als sie über das Kopfsteinpflaster läuft.
Da ist er. Er steht an der Laterne am Ende der Fontanka-Brücke. Aus der Distanz wirkt alles an ihm golden: seine Haare, seine Haut, sein Wams.
»Ich dachte, du kommst nicht«, sagt er, als sie ihn erreicht.
Sie hat Mühe zu antworten. Ihre Worte scheinen ihr im Hals steckenzubleiben – wie ihr Atem. Sie blickt auf seinen schönen Mund und weiß sofort, dass dies ein Fehler ist. Spontan schließt sie die Augen und beugt sich zu ihm. Und doch ist sie überrascht, als er sie küsst. Sie schreit leise auf, spürt, dass ihr die Tränen kommen, und obwohl sie sich in glitzernde Sterne verwandeln und sie sich schämt, kann sie sie nicht zurückhalten.
Jetzt weiß er, dass sie ein dummes Bauernmädchen ist, das sich verliebt hat und beim ersten Kuss weint.
Sie will sich eine Ausrede ausdenken – welche, weiß sie nicht, denn bevor sie den Mund öffnen kann, zieht Sascha sie abrupt hinunter und sagt mit so scharfer Stimme: »Still«, dass es sie trifft wie ein Stich. »Sieh mal, da.«
Eine glänzend schwarze Kutsche, die von sechs schwarzen Drachen gezogen wird, fährt langsam die Straße hinunter. Plötzlich senkt sich Stille über die Stadt. Menschen erstarren in ihren Bewegungen und ziehen sich in den Schatten zurück. Der Schwarze Ritter …
Wie ein Raubtier bewegt sich die Kutsche, und die Drachen speien Feuer. Als sie stehen bleibt, spürt Vera, wie sie ein Schauer durchfährt. »Da drüben wohne ich«, sagt sie.
Drei riesige grüne Trolle in schwarzen Umhängen steigen aus der Kutsche und besprechen sich kurz auf dem Bürgersteig, bevor sie zur Haustür gehen. »Was machen sie da?«, flüstert sie, als sie das Haus betreten. »Was wollen sie?«
Quälend langsam vergehen die Minuten, bevor die Tür wieder aufgeht.
Vera sieht plötzlich alles in Zeitlupe. Die Trolle haben ihren Vater. Er wehrt sich nicht, protestiert nicht, sagt kein einziges Wort.
Hinter ihnen stolpert ihre Mama schluchzend und flehend die Treppe herunter. Über ihr werden überall Fenster
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