Ein Garten im Winter
zugeschlagen.
»Papa!«, schreit Vera.
Ihr Vater blickt auf und sieht quer über die Straße zu ihr. Es ist, als hätte nur er ihren Schrei gehört.
Er schüttelt den Kopf und hebt die Hand, als wollte er sagen: Bleib, wo du bist . Dann wird er in die Kutsche gestoßen und verschwindet.
Sie stößt Sascha noch einmal mit dem Ellbogen an, und er lässt sie los. Ohne einen Blick zurück rennt sie über die Straße. »Mama, wohin hat man ihn gebracht?«
Langsam sieht ihre Mutter auf. Eine Sekunde lang scheint sie nicht mal ihre eigene Tochter zu erkennen. »Du solltest doch im Bett sein, Vera.«
»Die Trolle! Wohin haben sie Papa gebracht?«
Als ihre Mutter nicht antwortet, hört sie Saschas Stimme hinter sich. »Sie gehören zum Schwarzen Ritter, Vera. Sie machen, was sie wollen.«
»Das verstehe ich nicht«, schluchzt Vera. »Du bist doch ein Prinz –«
»Meine Familie hat keine Macht mehr. Der Schwarze Ritter hat meinen Vater und meinen Onkel eingesperrt. Das musst du wissen. Es ist neuerdings gefährlich, im Schneereich zur königlichen Familie zu gehören. Niemand kann euch helfen«, sagt er. »Es tut mir leid.«
Vera fängt an zu weinen, und dieses Mal verwandeln sich ihre Tränen nicht in Sterne, sondern in winzige schwarze Steine, die in den Augen schmerzen.
»Veronika«, sagt ihre Mutter. »Wir müssen hineingehen. Sofort.« Sie nimmt Veras Hand und zieht sie zu sich, während Sascha nur dasteht und sie ansieht. »Sie ist fünfzehn«, sagt ihre Mutter zu ihm, legt ihren Arm um Vera, drückt sie eng an sich und geht mit ihr die Eingangstreppe hinauf.
Als Vera einen letzten Blick zur Straße wirft, ist ihr Prinz verschwunden.
Von da an ist in Veras Familie alles anders. Es gibt kein Lachen mehr, nicht mal ein Lächeln. Sie, ihre Mutter und ihre Schwester versuchen zwar, so zu tun, als würde alles wieder gut, aber keine von ihnen glaubt es.
Das Reich ist immer noch schön, eine weiße eingefriedete Stadt mit Brücken, Türmchen und magischen Flüssen, aber Vera sieht sie jetzt anders. Sie sieht die Schatten, wo früher Licht war, Furcht, wo früher Liebe war. Wenn sie früher das Lachen der Studenten in den warmen Weißen Nächten hörte, kamen ihr vor Sehnsucht die Tränen. Jetzt hat sie einen besseren Grund zu weinen.
Aus Tagen werden Wochen, und langsam verliert Vera alle Hoffnung, dass ihr Vater jemals zurückkehrt. Als sie sechzehn wird, feiert sie nicht.
»Ich habe gehört, dass im Schloss Arbeitskräfte gesucht werden«, erzählt ihre Mutter eines Abends beim Essen. »In der Bibliothek und in der Bäckerei.«
»Ja«, antwortet Vera.
»Ich weiß, dass du eigentlich studieren wolltest«, sagt ihre Mutter.
Aber dieser Traum ist längst verblasst. Ihr Vater hatte davon geträumt, dass auch sie eines Tages Dichterin werden würde. Jetzt ist sie erwachsen, wonach sie sich immer gesehnt hat, und hat doch keine Wahl mehr. Ein Bauernmädchen hat keine Wahl. Das begreift sie endlich.
Ihre Zukunft hat sich durch seine Verhaftung verändert. Sie ist nun festgelegt: keine Schule mehr, keine gutaussehenden Mitschüler, die ihr die Bücher tragen und sie unter Straßenlaternen küssen. Kein Sascha. »Ich will nicht den ganzen Tag nach Brot riechen.«
Sie spürt, dass ihre Mutter nickt. Sie drei sind nun so eng verbunden, dass alle spüren, wenn eine sich bewegt. Wie bei Wellen in einem Teich.
»Ich gehe morgen zur königlichen Bibliothek«, erklärt Vera.
Sie ist sechzehn. Wie soll sie ahnen, welch eine fatale Entscheidung sie gerade getroffen hat? Wer hätte ahnen können, dass genau deshalb Menschen, die sie liebt, sterben werden?
Zwölf
»Sterben? Was soll das heißen? Was war falsch an ihrer Entscheidung?«, fragte Nina, als ihre Mutter verstummte. »Diesen Teil der Geschichte haben wir noch nie gehört.«
»Doch, habt ihr. Aber weil Meredith Angst bekam, habe ich ihn manchmal übersprungen.«
Nina stand auf, ging zum Bett und schaltete die Lampe an. In dem gedämpften Licht sah ihre Mutter aus wie ein Geist. Reglos lag sie da und hatte die Augen geschlossen.
»Ich bin müde. Du gehst jetzt.«
Nina wollte protestieren. Sie hätte stundenlang in der Dunkelheit sitzen und der Stimme ihrer Mutter lauschen können. In dieser Hinsicht hatte ihr Vater recht gehabt. Das Märchen verband sie. Vielleicht spürte ihre Mutter das auch, denn sie schmückte die Geschichte aus und ging tiefer als je zuvor. Wollte sie, genau wie Nina, dass sie länger dauerte? Oder hatte ihr Dad das von ihr
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