Ein Garten im Winter
verlangt?
»Brauchst du noch was, bevor ich gehe?«, wollte Nina wissen.
»Mein Strickzeug.«
Als Nina sich umblickte, entdeckte sie den prall gefüllten Beutel neben dem Schaukelstuhl. Sie ging hin und brachte ihn zum Bett. Kurz darauf bewegten sich die Hände ihrer Mutter schon über dem blaugrauen Mohairknäuel. Das Klicken der Stricknadeln begleitete Nina, als sie das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.
Am Bad blieb sie stehen und stieß die Tür auf. Niemand da.
Also ging sie allein die Treppe hinunter und legte Holz im Kamin nach. Sie schenkte sich ein Glas Wein ein und setzte sich vors Feuer.
»Meine Güte«, sagte sie laut.
Es war wirklich eine bemerkenswerte Geschichte, schon allein, weil ihre Mutter sie mit solchem Nachdruck, solcher Leidenschaft erzählte. Die Frau, die diese Geschichte erzählte, war ganz anders als die kalte, reservierte Anja Whitson, die Nina seit ihrer Kindheit kannte.
Hatte ihr Vater gewollt, dass sie einen Blick auf das Geheimnis erhaschte: dass irgendwo unter der undurchdringlichen Oberfläche eine ganz andere Frau verborgen war? War dies das Vermächtnis ihres Vaters? Ein Blick – endlich – auf die Frau, in die er sich verliebt hatte?
Oder steckte noch mehr dahinter? Die Geschichte war viel länger und detailreicher, als Nina sie in Erinnerung hatte. Vielleicht hatte sie früher aber auch nicht so gut zugehört. Sie hatte sie immer als etwas Selbstverständliches betrachtet; wie ein Foto, das man so oft gesehen hatte, dass man sich nicht mehr fragte, wer es aufgenommen hatte oder wer im Hintergrund stand. Aber wenn einem erst einmal eine Besonderheit daran aufgefallen war, stellte man alles andere infrage.
Meredith hatte ihrer Mutter nicht zuhören wollen, doch als sie in dem irrwitzig vollgestopften Bad hockte und die Schubladen voller abgelaufener Medikamente inspizierte, hörte sie die Stimme .
So hatte sie sie immer genannt, schon als kleines Mädchen.
Ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, packte sie den Karton zu Ende, schrieb BAD darauf und zog ihn in den Flur. Dabei hörte sie, wie die Worte aus ihrer Kindheit durch den Türspalt drangen.
»Jungen vielleicht. Einen ganz bestimmten Jungen.«
Meredith erschauerte. Sie erkannte ihre altvertraute Sehnsucht, den Wunsch, etwas von ihrer Mutter zu bekommen. Das Gefühl war ihr seit frühester Kindheit bekannt.
Sie wusste, sie sollte den Flur hinuntergehen und das Haus verlassen, aber sie konnte es nicht. Die Stimme ihrer Mutter, so honigsüß und verlockend wie die einer Märchenhexe, zog sie wie immer in ihren Bann, und bevor sie es richtig merkte, ging sie durch den Flur zum Türspalt und lauschte.
Erst als sie Nina mit scharfer Stimme fragen hörte: »Sterben? Was soll das heißen?«, war der Bann gebrochen. Rasch wich Meredith von der Tür zurück. Auf keinen Fall wollte sie beim Lauschen ertappt werden, weil Nina es als Interesse missdeuten und ausnutzen würde.
Sie eilte die Treppe hinunter und war kurz darauf zu Hause.
Die Hunde begrüßten sie mit überschwänglicher Freude. Es tat ihr so gut, vermisst worden zu sein, dass sie sie ins Haus ließ, sich hinkniete, beide umarmte und sich von ihnen das Gesicht ablecken ließ. Denn sonst war keiner da, der sie begrüßte.
»Brave Hunde«, murmelte sie, ließ sich von ihnen anstupsen und kraulte ihnen das weiche Fell hinter den Ohren. Müde stand sie auf, ging zum Schrank neben der Waschmaschine und zerrte den Riesensack Hundefutter hervor –
Jeffs Aufgabe
– und schüttete ihnen frisches Futter in die Näpfe. Nach kurzer Überprüfung, dass sie genug frisches Wasser hatten, ging sie in die Küche.
Sie war leer und still. Keinerlei Essensgerüche. Sie stand da in der Dunkelheit, und der Gedanke an die kommende Nacht lähmte sie. Kein Wunder, dass sie sich das Märchen angehört hatte. Alles war besser, als sich ihrem verwaisten Bett zu stellen.
Sie rief beide Töchter an, hinterließ kleine Liebesgrüße auf ihren Anrufbeantwortern und kochte sich dann eine Tasse Tee. Mit einer dicken Decke ging sie auf die Veranda.
Zumindest wirkte die Stille hier natürlich.
Sie konnte sich in dem unendlichen, sternübersäten Himmel verlieren, im Geruch der schwarzen fruchtbaren Erde, im süßen Duft neuen Wachstums. In diesem Monat, einer Atempause zwischen Frühjahr und Sommer, hingen die ersten winzigen Äpfel an den Bäumen. Bald würde die Apfelplantage voller Früchte sein, um die sich die Gärtner und Pflücker kümmern
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