Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
unermüdlicher Aufmerksamkeit und Neugier. Ekhoff gab sich Mühe. Der Mann, der von dem Toten weggerannt war, sei ‹irgendwie komisch gelaufen›, hatte Dräger gesagt. Er wolle noch darüber nachdenken. Komisch? Hatte er ein Bein nachgezogen? Einfach gehumpelt?
Es gab viele Arten zu humpeln, und es sah immer ein bisschen anders aus, ob einer ein Holzbein hatte, einen Klumpfuß, eine kranke Hüfte oder nur einen verstauchten Knöchel. Oder eine frische Verletzung, womöglich nach einem Kampf, einer, der kurz davor war, selbst umzufallen.
Oder einer, der bemerkt hatte, dass er beobachtet wurde und schlau die Möglichkeiten kalkulierte. Der kalt und schnell genug war, sich so zu verstellen.
Bis zu Hetty war von alledem nichts vorgedrungen. Sie hatte den durchaus verlockenden Versuchen der Grootmanns, besonders Claires und Emmas – erstaunlicherweise! –, sie zum Bleiben zu überreden, widerstanden. Es ging schon gegen Mittag, als endlich alles gepackt und der große Koffer und die Taschen in der Kutsche verstaut waren. Friedrich und Ernst Grootmann waren längst im Kontor, sie hatten sich nach dem Frühstück verabschiedet. Felix war noch gestern Abend in seine Stadtwohnung zurückgekehrt.
Der Abschied war warmherzig, auch Lydia Grootmann hatte ihre Nichte umarmt und versichert, sie möge jederzeit zurückkehren, hier sei immer ein Platz für sie. Es hatte nicht nach einer leeren Floskel geklungen, und als Hetty endlich in die offene Kutsche stieg, hatte Lydia plötzlich gesagt: «Claire, gib mir dein Schultertuch, der Wind von der Elbe kann frisch sein. Ich möchte dich begleiten, Henrietta. Natürlich nur, wenn es dir recht ist.»
Frau Lindner hatte noch gestern Abend Nachricht von Frau Winfields Rückkehr bekommen und alles vorbereitet – was immer das heißen mochte. Jedenfalls war ihr Zimmer gelüftet, ein leichter Duft von Heu und Lavendel lag in der Luft – Lavendel von Bettwäsche und Handtüchern, der intensivere Geruch des Heus kam durch das Fenster herein. Im Salon waren die Türen zur Terrasse weit geöffnet, auf der Anrichte stand neben Gebäck und Tee ein großer Strauß von Margeriten und Kornblumen. Die Ankunft von zwei Damen konnte Alma Lindner nicht aus der Fassung bringen. Es hätte sie viel mehr gewundert, wenn niemand Frau Winfield begleitet hätte, dass es allerdings Frau Grootmann selbst war, überraschte sie. Sie konnte sich nicht erinnern, ihr je zuvor die Haustür geöffnet zu haben.
Lydia blieb gerade lange genug für eine Tasse Tee unter der Terrassenmarkise. Sie war von ungewohnter Befangenheit, die Hetty das irritierende Gefühl gab, die Ältere zu sein. Etwas hatte sich verändert. Die Wand aus Glas, die immer zwischen ihnen bestanden hatte, hatte Sprünge bekommen. Oder schien es nur so? Doch nun war nicht die Zeit, darüber nachzudenken, wie sich ihre Tante fühlte, wenn sie nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder das Haus betrat, in dem ihre Schwester gelebt hatte und jung gestorben war, deren großes Porträt sie im Entree empfing. Hetty selbst war nun nach langer Zeit zurückgekehrt, die wenigen Stunden nach ihrer Ankunft im Juli zählten kaum. Nachdem Lydia Grootmann wieder von Brooks hinaus auf die Elbchaussee kutschiert wurde und Hetty ins Haus zurückkehrte, sah sie das Lächeln ihrer Eltern von den Porträts in der Diele nicht als Sinnbild ihres Verlustes, sondern als Trost.
Wieder im Garten, spürte sie die sommerliche Brise von der Elbe, atmete den Duft der späten Rosen und fühlte eine tiefe Ruhe einkehren. Sie hatte richtig entschieden. Solange dieses Haus und sein Garten ihr gehörten, wollte sie auch hier leben. Egal, wie kurz die Zeit war.
Alma Lindner stand am Fenster, blickte auf die schmale Gestalt im schwarzen Kleid und dachte nach. Es gab nun manches zu bedenken und zu entscheiden. Zuerst allerdings, ob es richtig wäre, Frau Winfield zu berichten, was sie gerade erfahren hatte, nämlich von dem Toten in der Hamburger Holztwiete. Insbesondere, dass dieser Tote – dieses zweite Opfer eines Messermörders – der Mann gewesen war, der versucht hatte, Mr. Winfields Taschenuhr zu verkaufen. Die Uhr, über die er angeblich auf der Straße gestolpert war, ganz in der Nähe des Meßbergplatzes.
Alma Lindner ließ sich nicht täuschen, weder von der Jugend noch von der leicht mit Schüchternheit zu verwechselnden Zurückhaltung der blassen Frau dort draußen im Garten. Hatte sie anfangs auch anders geurteilt, wusste sie nun: Henrietta Winfield war
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