Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
oder drei Zeilen, ab und zu auch nur: Heute nichts Besonderes , und dann ein Stichwort zum Wetter oder zu den Mahlzeiten.
Sie hatte vorgehabt, das Gaslicht zu löschen und in ihrem Zimmer bei Kerzenschein zu lesen, weil das Licht einer Kerze schneller schläfrig macht. Nun entschied sie neu. Dort standen in einer Reihe zwölf dieser Kladden, sie griff die ganz links stehende, Im Jahre des Herrn 1882 stand auf der ersten Seite, darunter ein schwungvoll gezogener, in eleganten Schnörkeln endender Bogen. Sie schlug die Kladde wieder zu, plötzlich voller Furcht. All die Zeilen waren nicht für sie geschrieben. Womöglich zeigte sie eine Welt, die sie nicht kennen wollte, die anders war, als sie gedacht hatte. Dann war es so.
Hetty setzte sich an den Sekretär, auf den Platz, an dem diese Kladden Jahr für Jahr gefüllt worden waren, drehte die Gasflamme in der Wandlampe höher und begann zu lesen.
* * *
Die kleine dicke Frau hielt seine Hand umklammert und versuchte, sie zu küssen, Ernst Grootmann entzog sie ihr energisch. «Nein, Frau Scholl. Eine so gute Nachricht ist der beste Dank, den man sich wünschen kann. Gehen Sie nach Hause, dort werden Sie gebraucht. Nun wird ja alles gut.» Ein wenig unbeholfen, als berühre es ihn peinlich, tätschelte er ihre von einem tiefen Schluchzer zitternden Schultern. «Und wenn der Doktor doch noch mal gebraucht wird, soll Jonny Bescheid sagen.»
Sein Vater, Friedrich Grootmann, hätte jetzt noch etwas Tröstliches auf Plattdeutsch gesagt, ein oder zwei Sätze nur, wie es üblich war. Alle Hamburger Kaufleute beherrschten es. Obgleich in den Schulen Hochdeutsch gesprochen und gelehrt wurde, war es wie auf dem Land die Alltagssprache im Hafen und in der Stadt, auch noch in manchen der großen Häuser. Ernst Grootmann beherrschte es schon nicht mehr so gut wie die Männer der älteren Generation. In seinen Ohren klang es künstlich, wenn er sich selbst so sprechen hörte.
Frau Scholl murmelte noch einmal ihren Dank, betonte lauter, sie werde immer für den jungen Herrn Grootmann beten, der Herrgott werde es ihm vergelten und seine Engel über ihn wachen lassen. Endlich kletterte sie die schmale Stiege des Kakaospeichers hinunter. Friedrich Grootmann, der ihr gerade entgegenkam, drückte sich an die Wand, die kleine Frau Scholl nahm ihn kaum wahr. Ganz gewiss erkannte sie nicht, wer ihr da Platz machte, sonst wäre sie vor lauter Knicksen womöglich doch noch die Treppe hinuntergefallen. Ernst stand noch auf dem Treppenabsatz, sah eher seinem Vater entgegen als Frau Scholl nach.
«Was hast du ihr angetan?», scherzte Friedrich. «Sie ist ganz aufgelöst. Hast du ihr ein Beutelchen Kakaobohnen für ihre Kinder spendiert? Sie hat doch welche?»
«Vier, Vater. Zwei Mädchen, zwei Jungen. Anna ist die Frau von Scholl. Du kennst den roten Scholl – rot zum Glück nur auf dem Kopf, nicht im Kopf, obwohl man das mit der Gesinnung bei den Speicherarbeitern in letzter Zeit nie zuverlässig für länger als drei Wochen weiß.»
«Jonny Scholl? Ja, den kenne ich. Guter Mann. Ist er krank? Ich dachte, ich hätte ihn gestern noch gesehen.»
«Er ist hier, auf dem fünften Boden. Seine beiden jüngeren Kinder haben Masern, ich fand, es könne nicht schaden, wenn Dr. Murnau nach ihnen sieht. Ja, ich weiß, man soll sich nicht zu sehr einmischen, es könnte zur Gewohnheit werden, und wir sind kein Fürsorgeinstitut, aber die Männer arbeiten besser, wenn es ihren Familien gutgeht. Sie waren an einen üblen Pfuscher geraten, unglaublich, was miserable Ärzte an Nichtwissen verkaufen. Man kann bei diesen verdammten Masern nicht viel tun, aber – egal, die Kinder sind auf bestem Weg, gesund zu werden, und weil so viele daran sterben, denkt sie, ich habe unsern Hausarzt geschickt, damit der ein Wunder vollbringt.»
«Und? Hast du?»
«Wunder vollbracht? Nein, der Doktor sicher auch nicht, es ist keiner, der sich mit Spökenkiekerei schmückt. Aber ihr scheint es wohl so. Wenn es hilft – auch gut. Kommst du nun mit hinauf? Wir wollen die ersten Proben stechen, es ist die neue Sorte dabei, die ich dir zeigen möchte.»
Friedrich beeilte sich, seinem Sohn die schmale Treppe hinaufzufolgen. Obwohl Ernsts Hinweis auf die Grenzen von Einmischung und Hilfsbereitschaft seiner Überzeugung entsprach – das blieb den Frauen überlassen, insbesondre in ihren zahlreichen mildtätigen Stiftungen und Vereinen –, freute ihn die Sache mit den Scholls. Er hatte sich nie gescheut, die Liebe, die
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