Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
zweifellos zart, immer beschützt und umsorgt und nun von den Ereignissen der letzten Wochen geschwächt. Aber sie würde sich durchbeißen. Sie gehörte zu diesen Frauen, deren Mut und Stärke erst erwachten, wenn beides gebraucht wurde. Damit kannte Alma Lindner sich aus, und sie erkannte auch, auf wen man achten musste und auf wen nicht. Wie die neue Herrin des Hauses da in der milden Sonne stand, sich zu den schweren weißen Blüten hinunterbeugte, um deren Schönheit oder einen auf den Blütenblättern krabbelnden Käfer genauer zu betrachten, wie sie sich wieder aufrichtete und, die Augen mit der Hand beschirmt, über den Fluss schaute, stand sie sehr aufrecht. Sie war ganz bei sich und am richtigen Platz. Wer das war, den wehte so schnell kein Sturm um. Und Stürme kamen unvermeidlich, so war der Lauf der Welt.
Alma Lindner drehte sich um und ging zurück in die Küche. Nachrichten wie die vom Mord an Weibert konnten bis morgen warten.
* * *
Am Nachmittag beschloss Hetty, Frau Lindner reinen Wein einzuschenken. Ihr Vater habe nichts hinterlassen als das Haus, erklärte sie und fügte nach einem Augenblick des Zögerns, auch die privatesten Dinge preiszugeben, hinzu, Ähnliches gelte für Mr. Winfield, allerdings gehöre ihr die Wohnung in Clifton nicht, sie sei nur gemietet, verursache somit Kosten, anstatt etwas einzubringen.
Sie werde das Haus verkaufen, nicht gleich, aber in absehbarer Zeit, Cousin Ernst werde einen Käufer suchen.
«Ich hoffe, Sie bleiben so lange hier, Frau Lindner, aber wenn Sie eine andere gute Stellung finden oder gar schon von einer wissen, steht Ihnen frei, sie jederzeit anzunehmen.» Als die Lindner weiter schwieg, fuhr Hetty fort: «Mein Vater hat Sie sehr geschätzt, er hat das in seinen Briefen betont. Ich wäre glücklich, wenn Sie auch nach dem Verkauf des Hauses in meinem Haushalt blieben. Das Problem dabei ist nur, ich weiß nicht, ob ich einen eigenen Haushalt haben werde, und wenn ja, wo er sein wird, ob ich mir erlauben kann, eine gute Hausdame oder Wirtschafterin wie Sie zu beschäftigen oder ob ich mich selbst als eine anbieten muss. Das wäre allerdings vermessen, ich verfüge nicht über den Bruchteil Ihres Wissens und Ihrer Qualitäten, ich bin nur eine verwöhnte Tochter und Ehefrau, ich meine, Witwe.»
Hetty schluckte. Die kühle Wahrheit klang in diesem Fall nicht gut, und es war das erste Mal, dass sie dieses Wort aussprach – Witwe. Die Stimme versagte ihr, sie musste um Fassung ringen. Egal, was Thomas getan oder vorgehabt hatte, sie hatte ihn geliebt, und er war tot.
Alma Lindner verharrte auf ihrem Stuhl, als stehe die Zeit still. Doch dann erhob sie sich, strich ihren Rock glatt und sagte: «Vielleicht etwas Stärkeres als eine Tasse Tee? Herr Mommsen hielt für solche Fälle einen alten Armagnac bereit. Wenn Sie erlauben, hole ich Ihnen ein Glas.»
«Am besten zwei, Frau Lindner. Eins für Sie und eins für mich.»
Hetty durchwanderte das Haus ihrer Kindheit, als schlendere sie zurück und durch jene Zeit. Alles schien an seinem Platz, die Sessel im Salon waren neu bezogen, sie erinnerte sich nicht genau an ihre frühere Farbe, aber sie war dunkler gewesen, auf jeden Fall dunkler.
Das große Wohnzimmer war vor allem benutzt worden, wenn viele Gäste geladen waren, seltene Gelegenheiten, an die sie sich kaum erinnerte. Und wenn es für das zugleich als Salon, Frühstücks- und Speisezimmer fungierende Gartenzimmer zu kühl wurde, fand das Leben in der gemütlichen Sitzecke vor dem Kamin statt. An den Wänden hingen noch die vertrauten Bilder, bis auf das neue Porträt ihres Vaters in der Diele, auch an ein hübsches Aquarell von Narzissen erinnerte sie sich nicht. Und dann war da die große Sammlung im Bilderzimmer. Vielleicht erkannte sie auch einige der Motive.
Sie öffnete die Tür und trat ein. Die geschlossenen grünen Gardinen gaben trotz der schon tief stehenden Sonne wieder ein geheimnisvolles Licht. Sie sah die Bilder an den Wänden, das große, alles dominierende Regal mit den noch ungerahmten Werken, und es fühlte sich fremd an. Ganz anders als beim ersten Mal, als die neugierige Emma mit ihrer silbrigen Stimme, ihrem Staunen und ihrem Spott diesen Raum zur Entdeckung und Überraschung gemacht hatte. Nun fühlte sie sich wie ein ungebetener Gast, als Voyeur. Das war lächerlich, es waren nur Bilder.
Sie griff schon nach der Türklinke, als sie etwas anderes wahrnahm. Bei ihrem ersten Besuch war die Luft stickig gewesen. Jetzt nicht.
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