Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
Frau Lindner hatte gewissenhaft wie stets auch diesen Raum gut gelüftet. Aber als sie die Tür zum Flur öffnete, bewegte sich die Gardine, und sie spürte einen leichten Luftzug.
Die Flügel des rechten Fensters waren verschlossen, die des linken auch, nur dass bei diesem der Riegel nicht richtig gegriffen hatte. Ein leichter Stoß, und die Flügel öffneten sich, gut geölt, wie alle Scharniere in diesem Haus, geräuschlos. Frau Lindner musste in Eile gewesen sein, wenn ihr das unterlaufen war. Hetty schloss den Riegel und zog die Gardine wieder vor, ein halbgeöffnetes Fenster zu dem von hohen Hecken und einem Zaun umschlossenen Garten war keiner Erwähnung wert.
Die Tagebücher entdeckte sie am selben Abend in der Bibliothek. Frau Lindner war schon zu Bett gegangen oder saß noch mit einem Buch in ihrem eigenen kleinen Wohnzimmer (Hetty konnte sie sich beim besten Willen nicht mit einer Häkelarbeit vorstellen). Es war ganz still, sogar der Wind hatte aufgegeben. Sie hatte endlich einen langen Brief an Marline Siddons geschrieben und überlegte, wie lange er bis an den Bosporus brauchen würde. In dem Baedeker für Konstantinopel und Kleinasien, den Marline ihr zum Abschied geschenkt hatte, waren auch Fahrpläne der einzelnen Linien abgedruckt. Mit dem Dampfer dauerte es Wochen, allein von Venedig über Brindisi und Piräus sechs Tage. Das musste eine schöne Reise sein. Nur im Sommer, hatte Marline zu bedenken gegeben. Besonders die Herbststürme des Ägäischen Meeres waren berüchtigt und gefürchtet. Mit der Eisenbahn ging es erstaunlich schnell, von Berlin bis Budapest dauerte es etwa zwanzig Stunden, dann noch anderthalb Tage, gut fünfunddreißig Stunden bis Konstantinopel.
Schon die Möglichkeit einer solchen Reise in das mediterrane Licht, zu den Düften von Mimosen, Thymian und Rosenöl war tröstlich. Irgendwann. Jetzt gab es hier Rätsel zu lösen und eine Welt zu erkunden, die zu ihr gehörte. Es war schwer gewesen, aufzuschreiben, was in den letzten Wochen geschehen war. Sie hoffte, Marline werde ihre Schrift entziffern und auch zwischen den Zeilen lesen.
Hetty war erschöpft, zugleich war ihr Geist hellwach. Es war unmöglich, jetzt einfach schlafen zu gehen. Irgendwo in diesen Regalen musste sich auch für eine ruhelose Nacht die passende Lektüre finden. Nicht zu anregend, aber interessant, möglichst mit einem guten Ende. Keine Familiengeschichte. Ganz oben auf einem Stapel neu aussehender Bücher neben dem Rauchtisch, eines war noch nicht einmal aufgeschnitten, lagen die Titel Durchs wilde Kurdistan und Der Schatz im Silbersee . Billige Abenteuerromane, zugleich eine Art von Reiseliteratur, wie sie sie bei ihrem Vater nicht vermutet hatte. Ebenso wenig die Gedichte Detlev von Liliencrons, eines wenig erfolgreichen Altonaer Dichters. Alle drei waren nicht nach ihrem Geschmack.
So ließ sie den Blick über die langen Reihen der Buchrücken in den bis zur Decke reichenden Fächern wandern, an einer ganzen Anzahl nicht beschrifteter schmaler Buchrücken in einer der oberen Reihen blieb er hängen. Sie schob die Leiter zurecht und zog einen der Bände heraus. Es war kein Roman, kein Sachbuch, kein alter Klassiker im unauffälligen Einband einer preiswerten Schülerausgabe, sondern eine Kladde, liniert, stabil gebunden, ähnlich einem Kontorbuch. Sie schlug es auf und erkannte gleich die Schrift ihres Vaters, sie hatte sich, seit er diese vielen Zeilen gefüllt hatte, kaum geändert. Auch in den Briefen, die sie mit verlässlicher Regelmäßigkeit von ihm erhalten hatte, hatte er in diesen ganz leicht nach rechts geneigten kleinen, aber immer akkuraten Buchstaben geschrieben, stets mit der gleichen schwarzen Tinte. Hier war die Schrift nachlässiger, sicher hatte er schneller geschrieben oder schon müde am Ende des Tages. Und nur für sich, da tat es nicht not, mit Disziplin leserlich zu schreiben, damit seine Tochter seine Briefe leicht entziffern konnte.
Ihr Herz klopfte heftiger – sie hatte einen Schatz entdeckt. Die Vergangenheit, nach der sie suchte, vor allem eine Tür zum Wesen und zum Leben ihres Vaters. Seinen ganz eigenen Blick auf die Welt, in der er gelebt hatte. Seine Tagebücher. Dieses war aus dem Jahr 1889, für fast jeden Tag gab es einige Zeilen. Er hatte keine langen Berichte notiert, keine ausführlichen Überlegungen oder Kommentare zum Geschehen, ob in der großen Welt oder im Privaten, die sie allzu gerne gelesen hätte. Da standen nur kurze Notizen, oft gerade zwei
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