Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
Kutsche zurückfahren willst. Sonst bleibt dir die Pferdebahn. Emma! Hörst du?!»
Emma war schon in die Halle verschwunden. Nun war sie auch in Eile. Sie mied die Bahn wie alle Gelegenheiten, bei denen sich viele Fremde auf engem Raum fanden. Selbst das Theater besuchte sie nur, wenn eine Loge zur Verfügung stand.
«Plötzlich interessiert sie sich für Häuser und Interieur», knurrte ihr Bruder, «es muss an dieser Verlobung liegen.»
Hetty wollte Emma folgen, doch Felix hielt sie mit der Bitte zurück, sie möge im Ankleidezimmer, oder wo immer sie ihr Gepäck haben wolle, warten. Wenn es im falschen Raum lande, werde es später beschwerlich sein, die Gepäckstücke ohne Kutscher oder Hausdiener weiterzutransportieren.
Es dauerte nicht lange, bis der große Koffer die Treppe hinauf und in das Ankleidezimmer gewuchtet war. Birte verschwand gleich wieder in der Küche, kaum schwerer atmend als gewöhnlich, Hetty machte sich mit Felix auf die Suche nach Emma.
Am Fuß der Treppe blieb sie stehen. Heute Morgen nahm sie auch die Halle mit anderen, gleichsam mit fremden Augen wahr. Als sie das Haus gestern müde und verwirrt nach langen Jahren zum ersten Mal wieder betreten hatte, hatten die Porträts ihrer Eltern sie empfangen. Das klare Gesicht ihrer Mutter hatte sie nicht erschreckt, es gehörte zu ihrem Leben. Ihr Vater hatte ihr bei seinem ersten Besuch in England sogar eine kleinere Kopie mitgebracht. Aber das neue Porträt Sophus Mommsens hatte sie überrascht und schwanken lassen. Er blickte sie direkt an, mit wohlwollenden, aber prüfenden Augen. Mit sprechenden Augen, so hatte sie gedacht, als wolle er etwas mitteilen.
Natürlich war Emma nicht mehr in der Halle. «Hat dich sein Porträt gestern erschreckt?», fragte Felix leise, als Hetty den Blick vom Gesicht ihres Vaters löste, um weiterzugehen, und nahm ihren Arm. «Ich habe nicht daran gedacht, dass es erst gemalt wurde, nachdem du zuletzt hier warst. Ich hätte es bedenken müssen, als ich dich gestern herbegleitete. Aber ich finde, er sieht uns freundlich an. Ich weiß nicht, ob er glücklich war – unglücklich war er gewiss nicht. Das sollte dich trösten. Trauer ist weniger hoffnungslos, wenn man weiß, dass der, um den man trauert, glücklich oder auch nur zufrieden gelebt hat.»
Hetty nickte – woher kannte Felix ihre nächtlichen Gedanken? – und entzog ihm behutsam den Arm.
«Lass uns Emma finden», sagte sie, «du bist in Eile.»
Das Haus hatte zwei Seitenflügel. Einer war erst vor wenigen Jahren angebaut worden. In ihm bewohnte die Hausdame zwei Räume mit einem eigenen Badezimmer. Im alten Flügel befanden sich weitere Zimmer und die Bibliothek. Dort trafen sie Emma.
Vielleicht hatte sie sie nicht kommen gehört, die Teppiche auf dem soliden Parkett der Flure schluckten den Klang der Schritte. Hetty verharrte auf der Schwelle wie vor einer gläsernen Wand. Als verlöre sie den Boden unter den Füßen, wenn sie einen Schritt weiter ging. Dieser Raum, zugleich Bibliothek und Rauchzimmer, war mehr als alle anderen sein Raum gewesen.
Nichts hatte sich hier verändert. Die verglasten Bücherregale bis zur Decke, der an manchen Stellen abgetretene orientalische Teppich, die beiden holländischen Gemälde voller mächtiger Wolken in der Manier von Ruysdael. Auch der runde Tisch mit der gehämmerten Messingplatte für die Rauchutensilien stand an seinem Platz, ebenso die kurze Trittleiter für die oberen Buchreihen. Alles war da – selbst der vertraute Geruch nach Tabak, altem Papier und Leder der Buchrücken, Juchten und etwas andrem, das sie nie hatte ergründen können. Lavendel vielleicht oder Eau de Cologne? Alles war wie immer, bis auf die Hauptsache.
Der Sessel war leer.
Nur hier hatte sie auf Papas Schoß oder ganz nah neben ihm auf dem Sofa sitzen dürfen, während er ihr aus der Zeitung oder einem seiner dicken Bücher vorlas. Er hätte auch auf Chinesisch vorlesen können, das war einerlei, ganz nah bei ihm und seiner Stimme zu sein, bedeutete Wärme und Sicherheit. Hatte sie oft so nah bei ihm gesessen? Oder tatsächlich nur ein- oder zweimal? Vervielfachten sich schöne, für die Seele lebenswichtige Erinnerungen, weil man es sich so wünschte?
Felix’ Räuspern holte sie in die Gegenwart zurück. Auch Emma bemerkte sie nun und wandte sich um. Sie stand vor dem großen alten Sekretär, an dem Sophus Mommsen, wie seine Tochter im Mädchenzimmer an ihrem kleinen, seine Korrespondenzen erledigt hatte, auch seine
Weitere Kostenlose Bücher