Ein Gebet für die Verdammten
Meter gähnende Leere.
»Entweder du bist sehr tapfer oder einfach nur töricht. Setz dich.« Sie wies auf einen Stuhl und sagte zu Enda: »Laß uns die Laterne da und warte draußen.«
Zögernd schob Enda sein Schwert in die Scheide und setzte die Laterne ab. Dann nahm er ein Talglicht, entzündete es an der Flamme der Laterne, warf einen verärgerten Blick auf das Mädchen und zog sich zurück.
Eadulf ging zum Fenster, schob den Vorhang beiseite und blickte hinaus. In der Dunkelheit ließ sich die tatsächliche Tiefe schlecht abschätzen, aber ihm genügte schon, was er sah. Nie und nimmer hätte er sich freiwillig auf den schmalen Sims gewagt.
Fidelma hatte sich auf dem Bettrand niedergelassen und nahm die junge Frau, die ihr jetzt gegenübersaß, prüfend in Augenschein. Zunächst glaubte sie, es mit dem Mädchen zu tun zu haben, das sie zuvor beim
immán
-Spiel gesehen hatte und das so fasziniert von dem Spielgeschehen gewesen war. Doch die fromme Schwester vor ihr war etwas kräftiger gebaut,hatte dunkleres Haar, war überhaupt ein etwas dunklerer Typ und auch ein paar Jahre älter. Ein Wohlgeruch ging von ihr aus, eine Duftnote, die Fidelma nicht einzuordnen wußte.
»Was gab es hier Wichtiges, daß du bereit warst, dein Leben auf so halsbrecherische Art aufs Spiel zu setzen, Schwester Sétach?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das würdest du ohnehin nicht verstehen.«
»Nicht, wenn du nicht wenigstens den Versuch machst, es mir zu erklären.«
Schweigen war alles, was sie erntete.
»Würdest du mir bitte erzählen, an welcher Stelle du auf den Sims geklettert bist, um bis hierherzugelangen, ohne daß der Wächter dich bemerken konnte?«
»Am Ende des Ganges gibt es ein Fenster.«
»Du bist ganze zehn Meter auf dem Sims entlanggekrochen?« staunte Fidelma.
»Man muß nicht unbedingt kriechen.«
»Ich frage noch einmal: Was gibt es hier so Wertvolles, daß du auf Gedeih und Verderb in dieses Gemach wolltest?«
Wieder schwieg das Mädchen, und Fidelma war schon drauf und dran, sie darauf aufmerksam zu machen, wen sie vor sich hatte, als sie plötzlich sagte: »Ich wollte sichergehen, daß sich niemand an Abt Ultáns persönlichem Eigentum vergreift.«
»Weshalb sollte das jemand tun?« fragte Fidelma verwundert.
Erneutes Schweigen. Fidelma wurde ungeduldig.
»Dir ist bewußt, daß ich eine
dálaigh
bin, eine Vertreterin des Gerichts, und daß du verpflichtet bist, mir meine Fragen zu beantworten?«
»Ich weiß sehr wohl, wer du bist«, erwiderte sie trotzig.»Du bist Fidelma von Cashel und gibst dich als fromme Schwester aus. Außerdem hast du die Verteidigung für den Mann übernommen, der Abt Ultán ermordet hat.«
Die Feindseligkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Trotzdem blieb Fidelma ruhig. »Du bist Schwester Sétach, stimmt’s?«
Das Mädchen nickte.
»Du hast eine Mitschwester, die gleichfalls in den Diensten des verstorbenen Abt Ultán stand. Wie heißt sie?«
»Schwester Marga.« Die Antwort kam etwas verhalten.
»Also gut, Schwester Sétach. Du hast recht, ich bin Fidelma von Cashel, und weiterhin bin ich eine
dálaigh
. Denk von mir, was du willst, aber vergiß vor allem nicht, ich bin Vertreterin von Recht und Gesetz, und in dieser Eigenschaft bist du mir zur Beantwortung meiner Fragen verpflichtet. Ist dir das klar?«
Abermals Schweigen.
»Kennst du die Wendung
qui tacet consentire videtur
– wer schweigt, stimmt offensichtlich zu? Ich interpretiere dein Schweigen als Bejahung, daß du mich verstanden hast. Wenn ich richtig unterrichtet bin, bist du in der Begleitung von Ultán hier angereist.«
»Von Ultán, Abt von Cill Ria«, verbesserte Schwester Sétach schnippisch.
»Ganz recht«, bestätigte Fidelma mit leicht gezwungenem Lächeln. »Welche Aufgabe hattest du als Mitglied seiner Begleitung?«
»Ebenso wie meine Glaubensschwester Marga war ich verantwortlich für alle Aufzeichnungen und die Handschriften mit den heiligen Texten.«
»Und ihr habt beide in der Abtei Cill Ria gedient?«
Das Mädchen konnte sich nicht sofort zu einer Antwortentschließen. »In dem Kloster leben zwei voneinander getrennte Gemeinschaften, eine für Männer und eine für Frauen.«
»Das ist mir bekannt«, erwiderte Fidelma. »Welche Art Aufzeichnungen hattest du zu verwalten?«
Nervös rutschte Schwester Sétach auf ihrem Stuhl hin und her. »Bruder Drón war Abt Ultáns Schreiber. Er war unser unmittelbarer Vorgesetzter.«
»Mit Bruder Drón haben wir bereits
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