Ein gefährlicher Gegner
Aufdämmern des neuen Tages zog Sir James die Vorhänge zurück. Mit der Wiederkehr des Lichtes erschienen ihnen die Ängste und fantastischen Gedanken der vergangenen Nacht absurd. Tuppence hatte nun ihre alte Zuversicht wiedergewonnen.
«Es wird ein herrlicher Tag», rief sie. «Und wir werden Tommy finden! Und Jane Finn!» Tuppence machte Tee und kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem die Teekanne und vier Tassen standen.
«Für wen ist denn die vierte Tasse?», fragte Hersheimer.
«Natürlich für unsere Gefangene.»
«Dass wir jetzt hier ihren Tee trinken, erscheint einem nach den Vorgängen von gestern Abend einigermaßen merkwürdig», sagte Hersheimer nachdenklich.
«Ja», sagte Tuppence. «Aber ich bringe ihr eine Tasse Tee; vielleicht kommen Sie mit, für den Fall, dass sie mich anspringt oder so etwas!»
Sir James und Hersheimer begleiteten Tuppence bis zur Tür. «Wo ist der Schlüssel? Ach ja, ich habe ihn ja selber.» Sie steckte ihn ins Schloss und hielt inne. «Und wenn sie nun trotz allem entwichen wäre?»
«Völlig unmöglich», antwortete Hersheimer zuversichtlich.
Sir James sagte nichts.
Tuppence tat einen tiefen Atemzug und trat ein. Sie fühlte sich erleichtert, als sie Mrs Vandemeyer im Bett liegen sah. «Guten Morgen», sagte sie aufmunternd. «Ich bringe Ihnen eine Tasse Tee!»
Mrs Vandemeyer antwortete nicht. Tuppence stellte die Tasse auf den Nachttisch und trat zum Fenster, um die Jalousien hochzuziehen. Als sie sich umwandte, lag Mrs Vandemeyer noch immer regungslos da. Von einer jähen Befürchtung ergriffen, lief Tuppence zum Bett. Die Hand, die sie anhob, war kalt… Mrs Vandemeyer war ganz offenbar im Schlaf gestorben. Tuppence schrie auf.
«Wenn das nun nicht ein Mordspech ist», rief Hersheimer verzweifelt.
Der Anwalt nahm die Angelegenheit ruhiger auf, aber in seinen Augen leuchtete ein seltsames Feuer. «Pech?», fragte er. «Nur Pech? Sollte da nicht eine gewisse Hand im Spiel sein?»
«Sie wollen doch nicht etwa sagen…? Aber das ist unmöglich! Keiner hätte hereinkommen können.»
«Stimmt, ich wüsste nicht, wie. Und dennoch… Sie steht im Begriff, Mr Brown zu verraten – und stirbt. Ist das wirklich ein Zufall?»
«Aber wie…?»
«Ja, wie! Das müssen wir eben feststellen.» Schweigend stand er da und strich sich das Kinn. «Wir müssen es feststellen», sagte er sehr ruhig und Tuppence dachte, dass ihr – wenn sie Mr Brown wäre – der Tonfall in diesen paar Worten nicht gefallen hätte.
Hersheimer blickte zum Fenster. «Das Fenster ist offen», bemerkte er. «Glauben Sie…»
Tuppence schüttelte den Kopf. Sie war ganz durcheinander. «Der Balkon führt nur bis zum kleinen Salon. Dort saßen wir.»
«Er könnte sich irgendwie hinausgeschlichen haben», meinte Hersheimer.
Aber nun mischte sich Sir James wieder ein. «Mr Browns Methoden sind nicht so grob. Zunächst einmal müssen wir einen Arzt kommen lassen; bevor wir es jedoch tun, wollen wir untersuchen, ob es in diesem Zimmer irgendetwas von Wert für uns gibt.»
In aller Eile machten sich die drei ans Werk. Auf dem Kaminrost lagen verkohlte Papierreste, die anzeigten, dass Mrs Vandemeyer vor ihrem Fluchtversuch einige Schriftstücke verbrannt hatte. Nichts von Bedeutung war geblieben, obwohl sie auch noch in den anderen Zimmern suchten.
«Da wäre noch etwas», sagte Tuppence plötzlich und zeigte auf einen kleinen altmodischen Safe, der in die Wand eingelassen war. «Er ist für Schmuck, glaube ich, aber es könnte ja auch etwas anderes darin liegen.»
Der Schlüssel steckte und Hersheimer durchsuchte das Innere. Er war einige Zeit damit beschäftigt.
«Nun?», rief Tuppence ungeduldig.
Es dauerte eine Weile, bevor Hersheimer antwortete. Dann zog er den Kopf wieder hervor und schloss die Tür. «Nichts», sagte er.
Nach weiteren fünf Minuten traf ein energischer junger Arzt ein, den sie herbeigerufen hatten. Sir James, den er wohl erkannte, behandelte er mit Hochachtung.
«Ein Herzanfall oder möglicherweise auch eine zu starke Dosis eines Schlafmittels.» Er zog die Luft ein. «Es riecht ziemlich stark nach Chloralhydrat.»
Tuppence dachte an das Glas, dessen Inhalt sie verschüttet hatte. Einem neuen Einfall folgend, trat sie an das Waschbecken. Sie sah die kleine Flasche, aus der Mrs Vandemeyer ein paar Tropfen in ihr Glas gegossen hatte.
Gestern Abend war die Flasche noch drei viertel voll gewesen. Nun war sie leer.
14
N ichts verblüffte Tuppence mehr als die
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