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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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und Tania. Vor ihrer Ankunft ist Maxime bange, dochdann ist er schnell beruhigt: Tania, noch genauso bezaubernd, zeigt sich ganz ungezwungen, gerät in Entzücken über das Baby. Ein Nachmittag mit ihr an Simons Wiege genügt, um ihn von diesem Idealbild loszureißen. Sein Sohn beansprucht seine ganze Aufmerksamkeit, alles andere tritt in den Hintergrund. Hannah lacht mit ihrem Bruder, der sie aufzieht, Robert scheint glücklich zu sein, er legt seinen Arm häufig um Tanias Taille, die allerdings nicht runder geworden ist, wie Maxime feststellt.

    Sonntags legt Hannah Simon in einen Tragekorb und stellt ihn in den Schatten unter einem Kastanienbaum zwischen Tennisplatz und Turnhalle. Manchmal kommt Maxime, vor Schweiß glänzend und ein Handtuch um den Nacken geschlungen, tätschelt die Wangen seines Sohns und küßt seine Frau, dann geht er wieder. Er wartet ungeduldig auf den Moment, wo er Simon in all die Sportarten einführen, ihn auf die Ringermatte mitnehmen, ihn um die Hüften fassen und ans Reck hängen kann.

    Auch Simon kannte das Ladengeschäft in der Rue du Bourg-l’Abbé. Er kletterte die Treppe hoch, lief durch die Gänge des Gebäudes, erforschte die Lagerräume. Vermutlich baute er wie ich Höhlen aus den leeren Kartons, die sich in jedem Raum stapelten. Er spielte Kassierer und half, die Kunden zu bedienen, Spiele, die ich ihm nachmachte, ohne es zu wissen. Auch er saß bei einer Tasse Schokolade in der Praxis von Louise und erzählte ihr von seinen Sorgen und Träumen. Aber hatte er dennSorgen? Anders als ich litt er nicht unter einem Körper, der ihn andauernd im Stich ließ, und er mußte sich die Bewunderung in den Augen seines Vaters nicht einreden.
    Bis das Unheil an die Wohnungstür in der Avenue Gambetta klopfte, verliefen Simons erste Lebensjahre völlig unbekümmert. Das weiß ich von Louise, die dem kleinen Phantom Leben einhauchte.

    Der Krieg wirft seine Schatten voraus. Die Ereignisse, die Europa erschüttern, bestimmen auch das Leben von Maxime und Hannah. Joseph klebt mit dem Ohr am Rundfunkgerät, liest sämtliche Zeitungen. Die Schikanen, die er in Rumänien erduldet hatte, führten ihn ins Exil, und jetzt ist er aufmerksamer als die anderen für die braune Gefahr, die sich hinter der Grenze ausbreitet. Maxime redet fortwährend auf ihn ein: Wir leben in Frankreich, dem Land der Freiheit, hier kann nichts dergleichen geschehen. Er möchte den ängstlichen Schimmer in Josephs Augen nicht sehen, er erträgt den Anblick der eingezogenen Schultern seines Vaters nicht, und manchmal herrscht er ihn an oder macht sich über seine Ängste lustig.

    Natürlich verheimlicht man Simon diese Diskussionen, hält die Schatten von ihm fern. Er wird geliebt, fürsorglich umhegt. Seine Welt gewährt ihm Schutz, die Passanten auf der Straße lächeln ihm zu, wie könnte eine solche Welt je umschlagen, sich gegen ihn wenden? Wie könnten diese freundlichen Erwachsenen eines Tages zu seinen Verfolgern werden, ihn herumstoßen, ihn in einenWaggon mit Stroh stecken und von Hannah trennen? Die Zeitungen berichten von Massenkundgebungen auf der anderen Seite der Grenze, die Zeitschriften bringen die entsprechenden Fotos. Und wenn er seinen Eltern über die Schultern guckt, läßt er sich von diesen tadellos aufgestellten Reihen blenden, von den Fackeln und den Bannern, die über der Menge in Paradeuniformen im Wind schlagen, und er sperrt die Augen weit auf.

Tag für Tag schlug Louise bei meinen Besuchen eine neue Seite des Buches auf, in dem ich noch nie zuvor geblättert hatte. Wir tauchten ein in die stürmischen Zeiten, die meine Eltern mit ihr zusammen erlebt hatten. Sie schenkte ihr Likörglas randvoll ein, zog an jeder Zigarette, bis sie sich die Finger verbrannte. Wenn die Türklingel ihrer Praxis einen Kunden ankündigte, seufzte sie, stand mit Bedauern auf und bat mich, auf sie zu warten. Dann beeilte sie sich mit der Behandlung und kam zu mir zurück, um den Faden ihrer Erzählung wiederaufzunehmen und mir den Stoff zu meiner zu liefern.

    Österreich wird annektiert, Polen überfallen, Frankreich tritt in den Krieg ein. Die Seiten werden schnell umgeschlagen: Sieg Nazideutschlands, Unterzeichnung des Waffenstillstands, Errichtung des Vichy-Regimes. In den Straßen schreien Zeitungsjungen die Namen der Leute, in deren Hände Frankreich sein Schicksal legt, ihre Gesichter tauchen in der Öffentlichkeit auf. Man sieht Panzer im Konvoi vorbeifahren, die Besatzungstruppen marschieren im
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