Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Stechschritt die Champs-Élysées hinunter. Auf der Aussichtsterrasse des Trocadéro steht, die Hände im Rücken verschränkt, ein Mann in Galauniform und betrachtet den Eiffelturm, als gehörte er ihm. Das Übel breitet sich aus, in wenigen Monaten werden die Werte auf den Kopf gestellt; Gesichter, denen man bisher vertraut hat, verkörpern nun das Böse. Beamte, die für Sicherheit sorgten, den Verkehr regelten,Ausweise abstempelten, werden zu eifrigen Erfüllungsgehilfen eines unerbittlichen Plans, zu Beamten, deren bloße Unterschrift ein Schicksal besiegeln kann. Der Feind ist nicht nur an seinen graugrünen Uniformen und den langen Regenmänteln zu erkennen, er kann auch in den Ärmelschonern eines Rathausangestellten stecken, unter dem Umhang eines Schutzmanns, hinter den Anordnungen eines Präfekten, ja sogar hinter dem freundlichen Blick eines Nachbarn. Der große Bus, der die Bewohner der Stadt zur Arbeit brachte, seine Fahrgäste vor Park- und Kinoeingängen auslud, ächzt nun unter der Last von Männern und Frauen mit Kleiderbündeln in den Händen. Von nun an halten die Citroën Frontantriebler, die früher glückliche Familien in ihre Ferienorte fuhren, am frühen Morgen vor den Haustüren, um Terror zu verbreiten.
Eines Tages findet Maxime Joseph in elender Verfassung über der Ladentheke zusammengesunken. Gaston, ihr Lagerist, hat Timo, den jugoslawischen Angestellten aus dem benachbarten Großhandel, in die Japy-Sporthalle begleitet, wo sich der junge Mann gemäß einer Vorladung melden mußte. Gaston ist allein zurückgekommen und soll seinem Freund die unentbehrlichsten Dinge bringen. Gerüchte über die ersten Verhaftungen kommen auf, die Unglücklichen werden angeblich an Orten festgehalten, die man in Sammellager umgewandelt hat. Joseph sieht darin die ersten Vorzeichen einer großangelegten Verfolgung. Er weiß genau, wovon er redet, und er hat es allen gesagt, die ihm Gehör schenkten: Hier wiederholt sich bald, wovor er aus Rumänien geflohen ist.
Seit der »Kristallnacht« und der Einführung der Judengesetze in Deutschland befürchtet er das Schlimmste, aber niemand will auf ihn hören. Im Viertel wird von Razzien gesprochen, die sich ausweiten. Wieder versucht Maxime, seinen Vater zu beruhigen: Timo werde nicht wegen seiner jüdischen Herkunft festgehalten, sondern weil er Ausländer ist. Man wisse doch aus dem Radio, daß die Politik der Säuberung darauf abzielt, alle Fremden aus Frankreich auszuweisen, die nicht eingebürgert sind. Joseph und seine Familie seien aber seit Jahrzehnten Franzosen, was hatten sie eigentlich zu befürchten?
Maxime stellt sich taub. Die Ängstlichkeit der Nachbarn ärgert ihn, er verabscheut ihre Jammermienen, er mag es nicht, wenn sie die Hände ringen, den Ängstlichen begegnet er abweisend, manchmal komplimentiert er sie unsanft hinaus. Er will noch an das Unmögliche glauben, wie viele andere hat er Berichte über Abtransporte im Morgengrauen gehört, er ist über die Operationen auf dem laufenden, die das Land von unerwünschten Elementen säubern sollen. Dennoch beharrt er darauf, daß nur Polen, Ungarn, Tschechen, Slowaken von diesen Maßnahmen betroffen seien, seit kurzem auch staatenlose Flüchtlinge, die kaum Französisch sprächen, Orthodoxe, die an ihrer Lebensweise festgehalten und eine regelrechte Enklave mitten in Paris gebildet hätten.
Aber er merkt doch, daß die Lage bedrohlicher wird. Die Gefahr hat das Gesicht des Mannes bekommen, der nun in Deutschland die Macht hat. Das Bild des unheilverkündenden Hampelmanns verfolgt ihn ständig,sein Gebrüll macht ihm eine Sprache verhaßt, die ihn bis dahin mit ihren Liedern und Opern gewiegt, mit ihrer Literatur und Philosophie gebildet hat.
Die Seiten werden immer schneller umgeschlagen, die Bilder konkreter. Man sieht lange Warteschlangen, Hausfrauen, die ganze Vormittage ausharren, um für teures Geld ein Stück minderwertiges Fleisch zu ergattern, Gemüse, das man früher nicht gegessen hat, oder ein Brot, von dem es möglichst dünne Scheiben herunterzuschneiden gilt. Vor allem aber bestätigen diese Seiten Josephs düsterste Voraussagen, denn sie zeigen Menschen, die unter Aufsicht der französischen Polizei eilig ihr Bündel schnüren und sich auf den Plattformen der Omnibusse drängen.
Später zeigten solche Schwarzweißaufnahmen den Ungläubigen die Türen von verplombten Waggons und Menschen auf Bahnhöfen im Nebel, von denen niemand mehr zurückkehrte.
Maxime hat es
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