Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Einige Monate zuvor hätte sein Begehren noch alle Hindernisse beiseite gefegt, er hätte alles unternommen, wenn nötig, alles zerstört, um diese Schönheit zu erobern.
Familie und Gäste versammeln sich im Hochzeitssaal hinter dem jungen Paar, eine unüberhörbare Menge, aus der Lachen und ersticktes Schluchzen dringen. Maxime und Hannah tauschen die Ringe und küssen sich unter großem Applaus. Dann gehen sie zum Tisch und setzen ihre Unterschriften ins Standesregister.
Maxime erlebt diese Augenblicke wie in einem Nebel. Er dreht sich zu den Gästen um und lächelt allen zu. Er darf nicht jenes Gesicht suchen, er weiß, er wäre aufs neue hingerissen. Tania sitzt neben ihrem Mann, sie hält den Kopf geneigt. Einige Sekunden lang fixiert Maxime die Frau, deren Anblick alles hinweggefegt hat. Ein einfacher Blick, eine kaum wahrnehmbare Absicht mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Und wenn er bei dem Blick ertappt würde? Doch die Gäste sind mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt, lächeln und schwatzen miteinander. Er sieht nur noch Tania, denkt nicht mehr an die Feier, vergißt seine Familie, seine Gäste. Er fixiert die junge Frau, bis sie seinen stummen Ruf endlich vernimmt und den Kopf hebt. Ihre schwarzen Locken fallen über ihr Kleid, öffnen sich wie ein Vorhang und geben ihreAugen frei. Er hält ihrem Blick eine Sekunde zu lange stand. Dann dreht er sich um und setzt seine Unterschrift ins Standesregister. Er will nicht an die Schmach denken, die er Hannah und allen, die zu ihren Ehren gekommen sind, zugefügt hat.
Etwas später in der Synagoge, als die würdevolle Stimme des Kantors unter dem Gewölbe erklingt, sieht er zum Balkon hinauf, wo die Frauen sitzen. Tania, in der ersten Reihe, hat die Lider geschlossen. Bestimmt hat die junge Frau seinen ersten Blick schon vergessen. Doch er fixiert sie erneut. Als sie die Augen öffnet, wird sie vom selben überraschend aufblitzenden Blick durchdrungen.
Alles andere ist nicht mehr so wichtig, durch sein törichtes Verhalten wird seine Bewunderung noch haltloser. Auf einen Augenblick kommt es an: Tania ist die schönste Frau, der er je begegnet ist, er kann sie nicht gehen lassen, ohne es ihr durch diesen eindringlichen Blick mitzuteilen.
Im Restaurant sitzt Maxime weit genug von ihr entfernt, um sich wieder zu fangen. Er greift bei jedem Gang kräftig zu, plaudert ausgelassen mit seinen Tischnachbarn. Er tanzt mit Hannah, mit seiner Schwiegermutter, fordert die meisten der anwesenden Frauen auf, aber er meidet Tania, die Berührung mit ihrem Körper durch das leichte Kleid, den Duft in ihrem Nacken, das Kitzeln ihres Haars. Als sich die Gäste schließlich verabschieden, ist er wirklich erleichtert: Tania und ihr Mann fahren zurück nach Lyon, er weiß nicht, wann er sie wiedersehen wird. Der Anblick seiner Schwägerin hätte ihm beinaheseine Hochzeit verdorben, gleich werden Hannah und er ihre erste Nacht zusammen verbringen, jetzt darf er an niemand anderen denken.
Als er später die junge Frau in seine Arme schließt, muß Maxime sich zwingen, nicht in Tanias Locken zu fassen und Tanias Lippen wund zu küssen.
Seit einigen Monaten sind Maxime und Hannah nun Mann und Frau. Manchmal denkt Maxime noch an Tania, die er seit seiner Hochzeit nicht mehr gesehen hat, aber Hannah füllt sein Leben ganz aus. Er arbeitet im Geschäft seines Vaters. Montags, wenn der größte Andrang herrscht, weil die Einzelhändler an diesem Tag ihre Einkäufe tätigen, hilft dort auch seine Frau aus. In der übrigen Zeit wacht sie über ihren Bauch, der sich rundet. Im Frühjahr soll ihr Wunschkind zur Welt kommen. Sie wohnen in der Avenue Gambetta in einer kleinen Wohnung mit Balkon über dem Friedhof Père-Lachaise. Jeden Sonntag begleitet Hannah Maxime ins Stadion, im Tennis erweist sie sich als achtbare Partnerin, ansonsten sitzt sie auf dem Rasen und strickt oder liest im Schatten der großen Bäume.
Zu Beginn des Frühjahrs kommt Simon auf die Welt, er ist gesund und kräftig und brüllt aus Leibeskräften. Mit zweitem Vornamen heißt er Joseph. Als der Arzt das Baby an seinen Daumen hochhält, um den Greifreflex zu testen, sieht Maxime seinen Sohn schon an den Ringen. Im Augenbrauenbogen und in dem energischen Kinn meint er sich wiederzuerkennen. Ein neues Leben zu dritt beginnt, Simon entwickelt sich prächtig, er schläft gut, hat einen riesigen Appetit, lacht alle an. Ihm bleiben noch acht Jahre zu leben.
Einige Monate später bekommen sie Besuch von Robert
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