Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
seiner Kontakte zu den Amerikanern erhält, hat er von der Existenz eines absoluten Grauens jenseits der Grenzen erfahren. Er hat keinem seiner Gäste etwas davon erzählt: Er will ihre Sorgen nicht vergrößern und weigert sich noch, an ein solches Werk der Vernichtung zu glauben.
Maxime, der sich die meiste Zeit des Tages in sein Zimmer einschließt, baut eine Mauer des Schweigens um sich auf. Keiner weiß, was man ihm sagen könnte, man achtet sein Leid. Hannahs und Simons Schatten schweben über allen Bewohnern des großen Landsitzes. Man meint den Jungen durchs Treppenhaus rennen zu hören, man würde ihn gern zum Baden an die Creuse mitnehmen. Man sieht Hannah auf der Terrasse mit ihrer Stickerei beschäftigt, während sie mit zärtlichen Blicken beobachtet, wie ihr Mann und ihr Sohn auf dem Rasen des Parks miteinander ringen. Um sich von Maxime fernzuhalten, verbringt Tania ihre Tage mit Esther und Louise. Sie gehen auf den Feldwegen spazieren, sprechen über alles, außerüber Hannah und Simon. Wie könnte Tania jetzt noch mit Maximes Begehren spielen? Sie geht ihm aus dem Weg, schlägt die Augen nieder, wenn sie ihm begegnet. Die Abwesenheit seiner Frau und seines Sohnes ist eine unüberwindliche Barriere zwischen ihnen.
Wochen vergehen, Maxime kehrt allmählich wieder ins Leben zurück. Er kommt aus seinem Zimmer, um den ganzen Tag über Holz zu schlagen oder lange Wanderungen zu machen. Jeder beobachtet ihn verstohlen, lauert auf einen Funken Leben in seinem erloschenen Blick. Wenn die Bewohner des Hauses aufstehen, ist das Frühstück schon gerichtet, auf dem Tisch thronen frisches Brot und ein Marmeladentopf: Maxime, der am frühen Morgen aufsteht, kümmert sich nach seiner Morgengymnastik um alles. Er hält es im Bett nicht aus, sobald er aufwacht, drückt die Angst mit ihrer ganzen Last auf ihn. Die Vorstellung, einen Abstecher in Tanias Zimmer zu machen, ist unmöglich geworden. Er, der für Aberglauben und Rituale nur Verachtung übrig hat, glaubt fast schon an eine Strafe des Himmels. Jeden Tag geht er zur Post, um nach Paris zu telefonieren, und wenn er zurückkommt, traut sich niemand, ihm Fragen zu stellen.
Am frühen Nachmittag, wenn die Hitze am stärksten ist, streift Tania ein leichtes Kleid über ihren Badeanzug und geht mit einem Handtuch über dem Arm zur Creuse hinunter. Sie schwimmt von einem Ufer zum anderen, bis sie nicht mehr kann, sie vervollkommnet ihre Sprünge vom Pfeiler der eingefallenen Brücke. Im eiskalten Wasser sieht sie das Gras wogen, den grauen Teppichdes Uferschlamms. Vor ihren Augen zieht eine Prozession vorüber: Pflanzenreste, die von der Strömung mitgerissen werden, beim Kraftwerk an den Schützen der Wehre hängenbleiben. Wenn sie im blendenden Sonnenlicht auftaucht, schnappt sie nach Luft und schüttelt ihr Haar, als ob sie einen bösen Traum verscheuchen wollte, dann hechtet sie stur zu einer neuen Runde ins Wasser. Sie schwimmt bis zur Erschöpfung, klettert erst aus dem Wasser, wenn sie völlig außer Atem ist und ihre Muskeln ihr nicht mehr gehorchen.
Die Gespräche beim abendlichen Beisammensein schleppen sich mühsam dahin. Maxime verschwindet als erster, man hört ihn schweren Schrittes die Stufen hochgehen und die Tür seines Zimmers hinter sich schließen. Etwas später folgen ihm Georges und die Frauen. Bevor sie in den Schlaf fallen, denken alle an die beiden, die fehlen, die jetzt in einer von Schluchzern erfüllten Nacht nebeneinander kauern.
Maxime erträgt diese Nächte nicht mehr, in denen er auf der Suche nach Hannah und Simon ist. Wenn er daran denkt, was Louise und Esther erzählt haben, verflucht er manchmal die Gedankenlosigkeit seiner Frau. Wie konnte sie nur ihren richtigen Ausweis in der Tasche behalten? Wegen ihrer Nachlässigkeit sieht er seinen Sohn vielleicht nie wieder.
Als er sich nach Wochen der Absonderung wieder unter die anderen mischt, gilt sein erster Blick Tania. Er will nicht länger standhaft bleiben. An einem Nachmittag, während die Bewohner des Hauses ein Mittagsschläfchen halten, begleitet er sie ans Flußufer. Wortlos gehen sie durch den Park, treten aus dem Gartentor, das zur Uferböschung führt, breiten ihre Handtücher auf dem warmen Gras aus. Tania zieht sich vor ihm aus, läßt ihr Kleid zu Boden gleiten und erscheint in dem schwarzen Badeanzug, den sie im Club Alsacienne getragen hat. Sie taucht sogleich ins Wasser ein, beginnt die Flußdurchquerung, pflügt mit regelmäßigen Bewegungen durchs Wasser.
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