Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Augen an. Louise und Esther halten den Atem an, sehen, wie Hannah in ihrer Taschekramt, ihre Papiere betrachtet, einen Ausweis gut sichtbar auf den Tisch legt, bevor sie einen anderen aus der Tasche holt, den sie dem Mann reicht, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden.
Fassungslos runzelt der Offizier die Stirn. Kaum daß er einen Blick auf den Ausweis geworfen hat, bellt er schon einen Befehl. Esther und Louise sind wie gelähmt, als sie begreifen, was soeben geschehen ist. Da ertönt plötzlich ein Trappeln auf dem Parkettboden, Simon kommt aus der Toilette und rennt zu seiner Mutter. Louise würde ihm gern ein Zeichen geben, damit er zu ihr kommt, doch es ist zu spät. Der Mann sieht Hannah fragend an. Ohne Zögern antwortet sie mit ruhiger Stimme: »Das ist mein Sohn.«
Flankiert von den Männern verlassen Hannah und Simon das Café. Alles hat sich in wenigen Sekunden abgespielt. Hannah, mit gedankenversunkenem Blick, ist schon weit weg. Als Simon seiner Mutter folgt, kommt er am Tisch der beiden Frauen vorbei, sagt aber kein Wort zu ihnen. Louise steht auf, doch eine feste Hand auf ihrer Schulter zwingt sie, sich wieder hinzusetzen: Es ist der Schleuser, der ihr einen wütenden Blick zuwirft. Die Offiziere haben nichts davon bemerkt, die Tür schließt sich wieder über der dunklen Nacht, man hört den Wagen starten, dann herrscht Stille. Esther und Louise sind niedergeschlagen, doch der Schleuser läßt ihnen keine Zeit zum Nachdenken, er ist kreidebleich, Schweiß leuchtet auf seiner Stirn: jetzt oder nie! Sie müssen weg, ihre Sachen aus dem Schuppen holen und den Pfad nehmen, der in die Freiheit führt; siemüssen auch das Gepäck von Mutter und Sohn mitnehmen. Beim Aufstehen stößt Louise gegen etwas unter dem Tisch: Simons Plüschtier. Der Junge ist ohne seinen Gefährten aufgebrochen, ihm den Hund hinterherzubringen hätte auch sie verraten, aber daran hat sie sowieso nicht gedacht. Sie drückt ihn an ihre Wange, näßt ihn mit ihren Tränen.
Der Schleuser drängt zur Eile, schubst sie hinaus. Bei Esthers Anblick kann einem angst und bange werden, der Strich, den sie mit einem weichen Stift um ihre Augen gezogen hatte, ist zerlaufen und zeichnet graugrüne Augenringe, ihr dichtes rotes Haar läßt sie besonders blaß aussehen. Trotz der Jahreszeit ist die Nacht kühl, der Himmel ist sternenübersät. Louise drückt den kleinen Hund an sich, sie denkt, daß Simon recht hatte, ihn mit der von Hannah gestrickten Hundedecke zu schützen.
Eine Stunde später sind sie in der freien Zone. Ein Säuseln durchzieht die Landschaft, streunende Katzen lassen die Gräser wogen, man hört den Schrei eines Raubvogels. Auf der Suche nach einem Unterstand, wo sie bis zum Morgengrauen warten können, gehen sie im Mondschein eine Straße entlang, ohne jemandem zu begegnen. Louise hat das jämmerliche Bild vor Augen, das die beiden abgeben: ein bleiches Gespenst mit zerrinnender Schminke, das an seinem Schluchzen schier erstickt, und eine elende, hinkende Jüdin mit einer Tasche in jeder Hand und einem Plüschtier, das sie unter den Arm geklemmt hat. Auf der anderen Seite der Demarkationslinie fährt ein Auto durch die Nacht, fegt mit seinenScheinwerfern über die feindliche Straße. In welchen Alptraum befördert es seine Fahrgäste, eine verstörte Frau und einen kleinen Jungen, der mit ängstlichem Blick die Dunkelheit zu durchdringen versucht? Louise und Esther haben denselben Gedanken: Sie sind an der Aufgabe gescheitert, die ihnen anvertraut war. Wie sollen sie den Männern in Saint-Gaultier entgegentreten, die sie erwarten, wie ihnen mitteilen, was passiert ist?
Als Tania vor dem Gittertor des Landsitzes erscheint, stutzt Maxime gerade einen vom Wind entwurzelten Baum mit der Axt zurecht. Er hat seinen Rhythmus gefunden, schlägt die Klinge mit sicherer Hand jedesmal ein Stück tiefer in die Kerbe. Diese Arbeit beschäftigt seine Gedanken und bringt seine Muskeln in Schwung, die zu lange untätig waren. Georges ist noch nicht vom Angeln zurückgekehrt, er sitzt unter einer Weide am Flußufer. Sein Eimer ist mit Fischen gefüllt, er stellt sich vor, wie er in die Küche kommt, wie sehr Thérèse sich beim Anblick seines Fangs freuen wird. Auf einem Liegestuhl auf der Terrasse liegt die Tochter des Obersten und liest, gewiegt von den regelmäßigen Axtschlägen. Von Zeit zu Zeit sieht sie mit zärtlichem Blick zu dem Mann in Hemdsärmeln hinüber, bewundert seine Kraft, feuert ihn mit Zurufen an.
Sie sieht Tania
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