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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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wieder wendet er sich an seine Mutter, die ihn kaum beachtet. Louise und Esther schweigen ebenfalls, Hannahs Verhalten hat ihre Angst insUnermeßliche gesteigert. Aus Furcht, sie könnte in Tränen ausbrechen, versuchen die beiden nicht, sie mit einer liebevollen Geste zu trösten. Bis zu ihrer Ankunft in dem Café bleibt sie stumm. Kurze Zeit später spricht sie zum ersten Mal seit ihrer Abreise aus Paris. Sie sagt nur einen Satz, einen einzigen, der Simon ins Verderben stürzt.
    Auf meine eindringliche Bitte hin hat Louise mir erzählt, was ihr für immer im Gedächtnis haftengeblieben ist. Sie hat mir ausführlich von dem Drama berichtet, alles preisgegeben, was meine Eltern ihr anvertraut haben, alles, was sie mit ihnen erlebt hat. Alles außer dem Wesentlichen. Ein Schatten war immer geblieben: Die Familie klammerte sich stets an den Glauben, Hannah habe mit einer unfaßbaren Unbedachtheit gehandelt, die ihr und in der Folge auch Simon zum Verhängnis wurde. Angesichts meiner Beharrlichkeit gestand meine alte Freundin mir schließlich jedoch, was sich an jenem Abend in dem Café ganz in der Nähe eines Grenzpostens wirklich abgespielt hatte. Die schüchterne Hannah, die vollkommene Mutter, verwandelte sich in eine tragische Heldin, die zerbrechliche junge Frau wurde plötzlich zur Medea, die das Leben ihres Sohnes und ihr eigenes Leben auf dem Altar ihrer verletzten Liebe opferte.

Esther und Louise sitzen an einem Tisch neben der Bar, Hannah und Simon etwas weiter weg am Fenster. Sonst ist niemand da, sie sind die einzigen Gäste im Café. Man hört das Ticken einer großen Wanduhr, der Wirt plaudert mit dem Schleuser und wienert dabei die Theke. Alles scheint ganz friedlich zu sein, ein Vorgeschmack auf die Freiheit, die sie in wenigen Kilometern Entfernung erwartet. Der Schleuser hat ihnen geraten, sich an verschiedene Tische zu setzen, um nicht als Gruppe aufzufallen. Nachdem er ihr Gepäck draußen in einem angebauten Schuppen untergestellt hat, besorgt er ihnen Getränke an der Bar. Er hat erkundet, wann die Wachen ihre Runden drehen, und weiß, um welche Uhrzeiten die Aufmerksamkeit der Posten nachläßt. Zu ihnen hat er gesagt, daß sie schnell sein müssen, sie sollten ihre Taschen schnappen, und dann würden sie in der Dunkelheit einen schmalen Weg entlanglaufen, von dem er jedes Steinchen kenne. Als Simon erfährt, daß sie nachts über Land marschieren würden, drückt er seinen kleinen Hund an sich und trinkt die Limonade, die der Mann ihm serviert hat. Hannah rührt ihre Tasse nicht an, sie starrt durch das Fenster in den Sternenhimmel, und von Zeit zu Zeit streicht sie ihrem Sohn wie zerstreut übers Haar. Von ihrem Tisch aus beobachten Esther und Louise sie besorgt. Simon muß zur Toilette, man zeigt ihm den Weg, Hannah will ihn begleiten, doch mit einer Geste bedeutet er ihr, er sei groß genug, um allein zurechtzukommen. Auf dem Weg vertraut er Louise seinen Hund an. Sie lächelt ihm zu, dann verschwindetder bezaubernde, willensstarke kleine Mann am Ende des Raums.

    Plötzlich hört man die Bremsen eines Autos quietschen. Schritte hallen durch die Nacht, die Tür des Cafés wird von drei Offizieren in Uniform aufgestoßen. Louise und Esther spüren, daß sie bleich werden, instinktiv versteckt Louise den kleinen Plüschhund unter dem Tisch, dann faßt sie sich an die Brust, um sich zu vergewissern, daß kein Faden des abgetrennten Sterns zurückgeblieben ist. Hannah reagiert nicht auf die hereinkommenden Männer. Die Rückenmuskeln des Schleusers verkrampfen sich, er stützt seine Ellbogen auf den Tresen, führt das Glas an seinen Mund und starrt auf die Flaschenreihen. Zwei der Männer beziehen Posten neben der Tür, der dritte geht zu Louise und Esther und bittet sie, sich auszuweisen. Sie überwinden das Zittern ihrer Hände und holen ihre Personalausweise aus den Taschen. Als Louise aufsteht, stößt sie mit ihrem orthopädischen Schuh gegen ein Tischbein. Der Mann sagt etwas auf deutsch zu seinen beiden Kollegen, die ihm lachend antworten. Der Wirt des Cafés wagt einen Scherz, der Schleuser zwingt sich zu einem Lachen. Der Offizier reagiert nicht, er studiert ausführlich die Paßbilder der beiden Frauen und sieht ihnen tief in die Augen. Anschließend gibt er ihnen die Ausweise zurück, er kontrolliert den des Schleusers und geht dann zu Hannah, die sich nicht vom Fenster abgewendet hat. Als er neben ihr steht, streckt er herrisch die Hand aus, und die junge Frau sieht ihn mit großen
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