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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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zuerst. Überrascht von der Schönheit der jungen Frau, die mit einer Reisetasche in der Hand reglos hinter dem Tor steht, schreckt sie hoch. In ihrem taillierten, kleinen grauen Kleid mit gerader Schulterlinie macht Tania eine perfekte Figur. Thérèse spürt einen Stich in ihrem Herzen, diese strahlende Erscheinung kündigt Unglück an, dessen ist sie gewiß. Beide Männer haben ihr schon von Tania erzählt, sie hat sie gleich erkannt, noch bevor Maxime den Kopf hebt und sie seinerseits erblickt. Er zuckt zusammen, läßt die Axt im Baumstamm stecken, wischt sich die Stirn ab. Sie sehen einander an, Maxime steht mit baumelnden Armen wenige Meter von Tania entfernt, die sich hinter demGittertor noch immer nicht rührt. Als Thérèse die Blicke entdeckt, versteht sie alles. Eine Wolke, die vorüberzieht, hat soeben die Nachmittagssonne verdeckt.

    Tania zieht in Simons Zimmer ein, in dem zwei Ehebetten stehen. Maxime und Georges bemühen sich eifrig um ihre Schwägerin, zeigen ihr das Städtchen, besichtigen mit ihr die Kirche und das Kloster, gehen mit ihr am Ufer der Creuse spazieren.

    Kurz nach ihrer Ankunft versucht sie vergeblich, ihre Schwiegereltern anzurufen. Sie stellt sich vor, wie das Läuten des Telefons im verlassenen Wohnzimmer erklingt, in die Todesstille einbricht. Damit sich Martha keine Sorgen mehr macht, schickt sie ihr ein Telegramm, aber sie will nicht an Robert denken. Wie ein halsstarriges kleines Mädchen hat sie einer Laune nachgegeben, und endlich ist sie bei dem Mann, den sie begehrt. Er wirkt auf sie anziehender denn je, sie kämpft gegen die Versuchung an, sich an seine breite Brust zu flüchten, ihren Mund auf seinen zu pressen. Neben dieser Kraft, von der sie ganz und gar besessen ist, verliert alles andere an Bedeutung.
    Von Tag zu Tag werden Maximes Blicke hartnäckiger, sie erwidert sie, läßt sich von den Wellen ihres Begehrens davontragen. Noch kann sie sich diesem verwirrenden Spiel hingeben, die Ankunft von Hannah und Simon wird ihm bald ein Ende machen. Jedesmal, wenn sie in Maximes klaren Blick eintaucht, fühlt sie sich von Thérèse beobachtet: Die Lehrerin reagiert wie ein eifersüchtiges Kind.

Jede Nacht dreht sich Maxime endlos von einer Seite auf die andere, Tania hat ihn völlig durcheinandergebracht, er wird das Bild der nebenan schlafenden jungen Frau nicht mehr los: ihre Haarpracht, die sich über dem Kopfkissen ausbreitet, ihre gebräunte Haut, die von der blassen Bettwäsche absticht.

Kaum angekommen, sinken Esther und Louise in die Arme von Maxime und Georges. Louise sagte mir später, daß keine von ihnen den Mut aufgebracht hatte, von Hannahs selbstmörderischer Tat zu berichten, statt dessen sprachen sie von einer Unbedachtheit, von Vergeßlichkeit.
    Wie mag das Leben in Saint-Gaultier ohne Hannah und Simon weitergegangen sein, das jeden der Gewalt unerträglicher Vorstellungen aussetzte? Maxime hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen und saß dort stundenlang mit dem Kopf zwischen den Händen auf dem Bettrand. In einer Ecke hinter einem Sessel standen die Taschen, die Louise und Esther mitgebracht hatten, und blieben über ihren Erinnerungsstücken verschlossen. Auf Simons Tasche lag der kleine Hund mit der gestrickten Hundedecke und paßte auf die Sachen seines Herrchens auf. Maxime konnte seinen Anblick nicht ertragen und bat darum, ihn aus dem Zimmer zu entfernen. Sein Sohn und seine Frau befanden sich in den Händen des Feindes und waren zweifellos mit einigen tausend anderen in einem der umzäunten Lager zusammengepfercht, in denen sich der Haß hemmungslos austobte. Während er sich zur selben Zeit im Schatten hoher Bäume eines Parks vom Vogelgesang wiegen ließ, wie es nicht schöner hätte sein können.
    Ich versuchte mir vorzustellen, welche Gefühle meine Mutter nach dieser Nachricht bewegten: Der Feind, vor dem sie geflohen war, wurde zu ihrem Verbündeten, fegte das einzige Hindernis hinweg, das zwischen ihrund meinem Vater stand. Alles war nun möglich, sofern Hannah und Simon nicht zurückkehren würden.

    In Saint-Gaultier versucht man zur Ruhe zu kommen, man will glauben, Mutter und Kind würden an einem der Orte festgehalten, deren Name für immer beschmutzt sein wird: Drancy, Pithiviers, Beaune-la-Rolande. Dort leidet man unter dem engen Zusammengepferchtsein, es mangelt an allem, aber ist es vorstellbar, daß man dort stirbt? Nur der Oberst weiß mehr, durch seine Verbindungen zum Widerstand, durch die Informationen, die er aufgrund
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