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Ein Geschenk der Kultur

Ein Geschenk der Kultur

Titel: Ein Geschenk der Kultur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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gestehen, daß meine Erinnerungen an Berlin in meinem Gedächtnis nicht in einer normalen, chronologischen Abfolge geordnet sind. Meine einzige Entschuldigung ist die, daß Berlin selbst so unnormal war – und doch auf eine so bizarre Weise repräsentativ –, daß es etwas Unwirkliches hatte; eine gelegentlich makabre Disney-Welt, die so sehr ein Teil der realen Welt war (und ein Teil der realpolitischen Welt), so sehr eine Kristallisation all dessen, was diesen Menschen in ihrer Geschichte gelungen war herzustellen, zu vernichten, instandzusetzen, zu bewundern, zu verdammen und anzubeten, daß es alles um eine Nuance überstieg, für das es beispielhaft war und eine klare – wenn auch in vielen Facetten schillernde – eigene Bedeutung bekam; eine Summe, eine Antwort, eine Darstellung, die keine Stadt, die bei Sinnen war, erreichen wollte oder konnte. Ich sagte bereits, daß wir mehr als an allem anderen an der irdischen Kunst interessiert waren; nun gut, Berlin war ein Meisterwerk, ein gleichwertiges Gegenstück zu unserem Schiff.
    Ich erinnere mich, daß ich durch die Stadt spazierte, bei Tag und Nacht, und Gebäude sah, deren Mauern immer noch von Einschüssen durchlöchert waren, die aus einem Krieg herrührten, der seit mehr als drei Jahrzehnten beendet war. Beleuchtete Bürogebäude voller Menschen, die ansonsten keine Besonderheiten aufwiesen, sahen aus, als ob sie mit einem Sandstrahlgebläse, bei dem die Körner so groß wie Tennisbälle waren, behandelt worden wären; Polizeiwachen, Wohnblocks, Kirchen, Parkmauern, selbst die Gehsteige trugen dieselben stigmatischen Male lange zurückliegender Gewalt, die Spuren, die Metall auf Stein hinterlassen hatte.
    Ich konnte jene Mauern lesen; konnte anhand der jeweiligen Zerstörung die Ereignisse eines Tages, eines Nachmittags, einer Stunde oder auch nur einiger weniger Minuten nachvollziehen. Hier waren die Geschosse von Maschinengewehren wie ein Sprühhagel eingeschlagen, leichte Artillerie hatte Kuhlen wie von Säureeinwirkung geschaffen; schwerere Geschütze hatte Kerben wie eine Reihe von Axthieben in Eis hinterlassen; hier hatten Lenkwaffen und kinetische Waffen die Mauern durchbohrt – die Löcher waren mit Steinen geflickt worden – und lange Strahlen von gezackten Vertiefungen in das Mauerwerk gegraben; hier war eine Granate explodiert, und Teilstücke waren in alle Richtungen geschleudert worden und hatten flache Abschürfungen des Gehsteigs und Scharten in der Mauer verursacht (oder auch nicht; manchmal fand sich in einer Richtung gänzlich unberührter Stein, wie ein Schrapnell-Schatten, wo vielleicht ein Soldat im Augenblick seines Todes der Stadt sein Abbild aufgeprägt hatte).
    An einer Stelle, nämlich an einem Bogen einer Eisenbahnunterführung, waren alle Male in einem krassen Winkel geneigt und schnitten einen langen Streifen in die eine Seite des Bogens, trafen auf das Pflaster des Gehsteigs und stiegen auf der anderen Seite der Nische wieder an. Ich blieb stehen und fragte mich, was es damit wohl auf sich haben mochte, bis mir einfiel, daß vor drei Jahrzehnten sich vermutlich einige Soldaten der Roten Armee dort hingekauert und das Feuer aus einem Gebäude auf der anderen Straßenseite auf sich gezogen hatten… Ich drehte mich um und erkannte sogar, aus welchem Fenster…
    Ich fuhr mit der vom Westen betriebenen U-Bahn unter der Mauer hindurch, durchquerte West-Berlin von einer Seite zur anderen, vom Halleschen Tor bis Tegel. An der Station Friedrichstraße konnte man aus der Bahn aussteigen und Ost-Berlin betreten, doch die anderen Haltestellen unter dem Ostteil waren geschlossen; Wachposten mit Maschinengewehren standen da und beobachteten den Zug, der durch die verlassenen Bahnhöfe brauste; ein gespenstischer blauer Schimmer erhellte diese filmreife Kulisse, und durch das Vorbeirauschen des Zuges wurden uralte Zeitungen aufgewirbelt und die abgerissenen Ecken von alten Plakaten hochgeweht, die noch immer an den Wänden klebten. Ich mußte diese Fahrt zweimal machen, um mich zu vergewissern, daß ich mir das Ganze nicht einbildete; die anderen Passagiere hatten jedesmal so gelangweilt und scheintot ausgesehen, wie es die Fahrgäste aller U-Bahnen stets zu tun pflegen.
    Manchmal hatte die Stadt selbst etwas von dieser beängstigenden, geisterhaften Leere. Trotz seiner hermetischen Eingeschlossenheit war West-Berlin sehr groß und hatte jede Menge Grünanlagen und Bäume und Seen – mehr als die meisten Städte –, und diese

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