Ein Geschenk der Kultur
Linters Leiche aus der Kühlkammer des New Yorker Leichenschauhauses an Bord geholt. Ich gab zu bedenken, daß er auf dem Planeten begraben werden sollte, doch das Schiff war anderer Meinung. Linters letzte Verfügungen bezüglich der Entsorgung seiner Überreste waren fünfzehn Jahre zuvor niedergelegt worden, ganz zu Anfang seiner Zugehörigkeit zum Kontakt, und sie entsprachen der herkömmlichen Verfahrensweise; seine Leiche sollte in den Mittelpunkt des nächsten Sterns befördert werden. Auf diese Weise gewann die Sonne das Gewicht eines Körpers dazu, dank der Tradition der Kultur, und in einer Million Jahre würde vielleicht ein kleines bißchen Licht von Linters Leiche auf den Planeten scheinen, den er geliebt hatte.
Die Willkür erhielt ihr Dunkelfeld ein paar Minuten lang, dann führte sie ein Swing-by-Manöver am Mars durch (so daß die Möglichkeit bestand, daß sie durch ein irdisches Teleskop zu sehen war). Inzwischen sammelte sie hastig all ihre verschiedenen ferngesteuerten Drohnen und Satelliten von den anderen Planeten in diesem System ein. Sie verharrte bis zum allerletzten Moment im Echt-Raum (und ermöglichte dadurch, daß ihre schnell zunehmende Masse bei einem terrestrischen Schwerkraft-Wellen-Experiment, das tief in einem Bergstollen durchgeführt wurde, einen Lichtfleck hervorrief), dann schaltete sie auf volle Kraft, während sie Linters Leiche ins Herz der Sonne beförderte, saugte ein paar letzte Drohnen von Pluto und einigen versprengten Kometen ab und schleuderte Lis Diamanten in Richtung Neptun (wo er sich wahrscheinlich noch immer im Orbit befindet).
Ich hatte beschlossen, nach meinem Erholungsurlaub die Willkür zu verlassen, doch nachdem ich mich in der Orbitalsiedlung Svanrayt einige Wochen lang ausgeruht hatte, überlegte ich es mir anders. Ich hatte zu viele Freunde auf dem Schiff, und überhaupt erschien es mir von echter Trauer erfüllt, als es erfuhr, daß ich mich mit der Absicht einer Veränderung trug. Es überredete mich unter Aufbietung seines ganzen Charmes zu Bleiben. Aber es verriet mir nie, ob es Linter und mich in jener Nacht in New York beobachtet hatte.
Also, glaubte ich nun wirklich, daß ich schuld war, oder machte ich nur sogar mir selbst etwas vor? Ich weiß es nicht. Ich wußte es damals nicht, und ich weiß es heute nicht.
Es gab eine Schuld, daran erinnere ich mich, aber es war eine sehr fragwürdige Schuld. Was mich wirklich ärgerte, was ich immer noch schwer ertragen kann, ist meine damalige Komplizenschaft – nicht hinsichtlich dessen, was Linter versucht hatte zu tun, auch nicht im Zusammenhang mit seinem halb-willentlich herbeigeführten Tod, sondern mit dem allgemeinen Prinzip des übertragenen Mythos, den diese Leute als Realität hinnahmen.
Mir fällt auf, daß wir, obwohl wir gelegentlich herumnörgeln, weil wir leiden müssen und jammern, daß wir niemals echte Kunst hervorbringen, und verzweifeln oder uns allzu krampfhaft um einen Ausgleich bemühen, haben wir Nachsicht für unseren üblichen Trick, etwas künstlich herzustellen, über das wir uns grämen können, während wir uns wirklich selbst danken sollten, daß wir so leben, wie wir leben. Wir mögen uns für Parasiten halten, uns beschweren über Überlieferungen, die in maschinellen Gehirnen entstanden sind, und uns nach ›echten‹ Gefühlen, ›wahren‹ Empfindungen sehnen, aber wir übersehen das Wichtigste, da wir tatsächlich ein Kunstwerk schaffen, indem wir uns die Möglichkeit einer derart schlichten Existenz überhaupt vorstellen können. Wir haben das beste Los erwischt. Die Alternative wäre etwas wie die Erde, wo die Leute, so sehr sie auch leiden, bei all dem Schmerz und der verworrenen Angst, mehr Mist hervorbringen als alles andere; Schnulzenfilme und Quizsendungen, Klatschzeitungen und Schundromane.
Schlimmer noch, es gibt eine Osmose von dem der Phantasie Entsprungenen zur Wirklichkeit, eine ständige Verseuchung, die die Wahrheit hinter beidem verzerrt und die aufschlußreichen Unterscheidungen im Leben selbst verwischt, indem reale Situationen und Gefühle durch Regeln geordnet werden, die zum größten Teil auf den verstaubtesten erfundenen Klischees beruhen, einem vertrauten und allgemein anerkannten Unsinn. Daher also die Schnulzen und jene, die versuchen, ihr Leben wie eine Schnulze zu gestalten, während sie daran glauben, daß die Geschichten wahr sind; daher also die Quizveranstaltungen, bei denen es darauf ankommt, so engstirnig wie möglich zu
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