Ein Geschenk von Tiffany
zuerst nur durch die Tunnel getröpfelt, dann bildete sich ein reißender Strom. Die leicht besorgten Mienen erhellten sich, sobald man die »Lobby« betrat und von der stimmungsvollen Beleuchtung, den Wandgemälden und den Blumen empfangen wurde. Das Ambiente besaß genug von dem, was man kannte – und brauchte –, um sich sicher zu fühlen, aber der Schockfaktor verlieh dem Ganzen einen zusätzlichen Thrill. Die Stimmung knipste sich wie von selbst an, das Stimmengewirr wurde lauter, ausgelassener, Gelächter flackerte auf.
Innerhalb einer halben Stunde wurde Cassie von Pelzmänteln geradezu überschwemmt. Sie hatte nur wenige Sekunden, um den Gast zu identifizieren, auf der Liste abzuhaken und den Namen auf ein Garderobenkärtchen zu schreiben, das am Kleiderbügel befestigt wurde. Nummerierte Tickets galten als vulgär. Diesmal war Cassie gut vorbereitet. Sie hatte die Gästeliste sorgfältig studiert und kannte auch alle dazugehörigen Gesichter.
Kurz nach neun tauchten auch Anouk, Pierre, Guillaume und Jacques auf. Nun, da der erste VIP-Rush abgeklungen war, ließ Cassie sich von Stéphanie ablösen, einer Juniorassistentin.
»Du siehst einfach fantastisch aus«, schwärmte Cassie, als Anouk ihren mit einem Gürtel taillierten schwarzen Taft-Trenchcoat ausgezogen hatte. Sie trug ein hautenges schwarzes Seidenkleid mit langen Ärmeln, das einen Spitzeneinsatz hatte, der sich wie eine Schlange um ihren ganzen Körper herumzog, strategisch wichtige Punkte diskret umgehend. Dennoch war klar, dass Anouk darunter offenbar nichts anhatte.
Es war nicht ihr üblicher Stil – zu provokativ, zu outré . Nach den Blicken der Männer zu schließen dachten diese dasselbe und fragten sich gleichzeitig, ob die Schlange wohl wandern würde, wenn Anouk sich bewegte.
Es war mittlerweile gerammelt voll. Die Gäste lehnten an den Knochenwänden, als wären es Bibliotheksregale. Cassie konnte weiter hinten Florence erkennen, die ihre Bosse irgendwelchen distinguierten Gästen vorstellte. Cassie schnappte sich ein Glas. Jetzt konnte sie sich ein wenig entspannen und zu ihren Freunden gesellen.
Der Champagner prickelte auf ihrer Zunge. Sie schloss die Augen und genoss den ersten Schluck Alkohol seit Wochen. Seit Claudes Tod – besonders nach dem abgebrochenen dîner en blanc – hatte sie aufgehört zu trinken. Abends zog sie sich meist früh in ihr Zimmer zurück, um dort allein im Dunkeln zu sitzen: Abstinenz als Strafe dafür, dass sie nicht da gewesen war, nicht zurückgerufen hatte …
Aber heute Abend spürte sie den überwältigenden Drang, alles loszulassen – ihre Nüchternheit, ihre Träume, ihre Hemmungen. Morgen hätte der erste Tag ihres neuen Lebens beginnen sollen, das Leben, für das sie sich entschieden gehabt hatte: ein Leben in Paris, die Verwirklichung ihres Traums, mit Claudes Hilfe. Damit war’s vorbei, zumindest würde es nicht mehr so möglich sein, wie sie es sich erträumt hatte. Morgen würde sie sich wirklich überlegen müssen, was sie nun mit ihrem Leben anfangen wollte – sich doch der hohen Kunst des Kochens widmen – aber ohne Claudes Anleitung und Protektion – oder bei Dior bleiben und eine Karriere im Marketing anstreben.
Keins davon war verlockend – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Eine Entscheidung musste jedoch getroffen werden, aber das konnte sie ebenso gut verkatert wie nüchtern. Sie nahm noch einen Schluck. Begann sich leise im Takt der Musik zu wiegen. Einschmeichelnde, atmosphärische Musik, die gut zum Ambiente passte. Was Gil wohl denken würde, wenn er sie jetzt sähe? Auf dieser Party, die sie organisiert hatte. In einem Dior-Kleid, das noch gar nicht im Handel war, schlank und geschmeidig, die Haare dunkel glänzend und modisch geschnitten. Würde er sie noch haben wollen? Oder besser gesagt, würde sie ihn noch haben wollen? Ja, er hatte die damals Zwanzigjährige mit seinem weltmännischen, gepflegten Auftreten umgehauen, aber war er wirklich ein so guter Fang gewesen, wie sie gedacht hatte? Sie war in den letzten sechs Monaten mehr gereift als in den ganzen zehn Jahren davor. Und irgendwie war sie über ihn hinausgewachsen.
Sie spürte, wie sich ein schlanker Arm um ihre Schultern legte. Der Jasminduft verriet ihr, dass es Anouk war, die mit ihr tanzen wollte. Sie wiegten sich mit geschlossenen Augen zur Musik, Anouk summte leise in ihr Ohr. Als Cassie irgendwann die Augen aufschlug, war sie überrascht zu sehen, wie viele begehrliche Blicke sie auf sich
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