Ein Geschenk von Tiffany
dem Rattern der Kaffeemühle.
»Ihr Wechselgeld. Den Kaffee können Sie dort abholen. Der Nächste bitte!«
»Danke«, sagte Cassie und zog den Reißverschluss einer ihrer Jackentaschen auf, um die Münzen darin zu verstauen. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass bereits was drin war: ein kleiner zusammengefalteter Umschlag. Noch überraschter stellte sie fest, dass darauf ihr Name stand und darunter in Klammern: (Sorry, das wollte ich eigentlich zu den Samen dazutun.)
Stirnrunzelnd öffnete sie den Umschlag und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, das offenbar aus einem Notizblock gerissen worden war. Darauf stand in einer schrägen, kantigen Schrift:
den Ground Zero besuchen
in Kellys Apartment eine Dinnerparty veranstalten
in die Public Library gehen und »Eine Weihnachtsgeschichte« von Dickens lesen. Frag nach Robin!
einmal um den ganzen Central Park joggen
auf jeden Fall weiter nach Paris reisen!
Henry x
Sollte das ihre Liste sein? Sie hatte eher Vorschläge wie »Tee im Plaza« oder »bei Bloomingdale’s einkaufen« erwartet. »Double Macchiato, entkoffeiniert, halbfett«, bellte eine Stimme zum dritten Mal.
»Was? Ach ja, das bin ich«, sagte Cassie und rannte schnell zurück zur Theke. Behutsam nahm sie ihren Becher und ging damit zur Versorgungsstation. Fasziniert las sie den Zettel noch einmal. Was für ausgefallene Vorschläge. Zerstreut rührte sie ihren Kaffee um. Eine Dinnerparty geben? In Kellys winziger, mit Unterwäsche vollgestopfter Küche? Spinnt der?
Um den Central Park herumlaufen. Hm. Das wäre immerhin im Bereich des Machbaren. So schlecht war sie schließlich nicht mehr.
In die Bibliothek gehen und ein Buch lesen – ho-hum. Den Ground Zero besuchen. Sie hob den Kopf und schaute aus dem Fenster auf die vorbeirennenden Massen, alle in eine Richtung, mit demselben Ziel: Tavern on the Green im Central Park, wo der Lauf endete. Wenn die Halbinsel ein Schiff gewesen wäre, dann hätte es sicher Schlagseite gekriegt, da fast alle seine Bewohner auf ein und dasselbe Ziel zustrebten. Aber Ground Zero, hm … Das Rennen hatte Downtown gestartet, auf Staten Island, und es führte über die Brücke auf die andere Seite des East River. Der Financial District, wo sich der Ground Zero befand, würde heute so gut wie leer sein.
Entschlossen faltete sie den Zettel zusammen, steckte ihn in ihre Tasche zurück und machte sicherheitshalber noch den Reißverschluss zu. Dann sprang sie in den ersten Bus nach Downtown. Sie ließ sich auf einen Sitz plumpsen und sah nach draußen. Der Bus fuhr sie über die unsichtbare Grenze, hinaus aus der schicken Upper East Side, nach Midtown, dann rüber auf die West Side, zum Broadway, nach Süden durchs malerische Chelsea, runter ins West Village, durch boho SoHo, Tribeca und schließlich in den Financial District.
Henry hatte recht. Das musste sie sich anschauen. Sie hatte bis jetzt ja kaum etwas gesehen, außer die Glitzerwelt der Modeindustrie und ihre Frisier-Brunches mit Bas. Einige Sehenswürdigkeiten dieser wundervollen Stadt zu besichtigen war ihr überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen. Wie konnte sie behaupten, New York gesehen zu haben – und nicht eine seiner wichtigsten Narben –, wenn all das hier vorbei war und sie sich irgendwo niederließ? Niederlassen musste.
Sie stieg am Broadway aus und ging die Liberty Street entlang bis zur Aussichtsplattform. Ground Zero.
Hier war sie also, hier, wo Geschichte geschrieben worden war. Beim Näherkommen war es jedoch nicht die Stelle selbst, die ihre Aufmerksamkeit als Erstes erregte, sondern der Himmel, der sich hier wie eine blaue Blume zwischen den ihn umgebenden, ihn einengenden Wolkenkratzern wölbte. Sie hatte oft gedacht, wie ironisch es doch war, dass die New Yorker, deren Stadt eine der fantastischsten Skylines der Welt besaß, mit gesenkten Köpfen, den Blick höchstens auf Augenhöhe, durch die Straßen gingen.
Diese Gebäude, die die New Yorker so sehr charakterisierten, ja ihnen förmlich ein Brandzeichen aufgedrückt hatten, waren nicht dazu geschaffen, von unten betrachtet zu werden, sondern von oben, aus den Wolkenkratzern selbst. Nur von dort hatte man diesen atemberaubenden Ausblick über diese Skyline.
Aber hier, an der Spitze der Halbinsel, war es anders. Hier befand sich diese schreckliche Lücke, dieser leere Platz, über dem sich plötzlich der freie Himmel wölbte, eine unwiderstehliche Versuchung, von dem Schrecklichen, das auf dem Boden geschehen war,
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